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Münster (upm/kn)
Krankheiten kurieren: Drei Kinder nehmen ein Solebad im Holzbottich.<address>© Westfälische Salzwelten</address>
Krankheiten kurieren: Drei Kinder nehmen ein Solebad im Holzbottich.
© Westfälische Salzwelten

Misshandlungen statt Erholung in westfälischen Kinderkurheimen

Forschungsprojekt arbeitet die Ereignisse zwischen 1950 und 1990 auf / Digitaler Rundgang soll Kuralltag erfahrbar machen

Den Sommer 1973 verbrachte Detlef Lichtrauter im Kindersanatorium Haus Bernward in Bonn-Oberkassel. Der damals 12-Jährige hat wie die Mehrheit der Kinder in Deutschland zwischen 1950 und 1990 eine mehrwöchige Kinderkur absolviert. Statt Erholung erlebte er dort Gewalt. „Mir wurden Psychopharmaka verabreicht, und ich wurde zum Essen gezwungen“, erzählt Detlef Lichtrauter. „Bis heute lässt mich das Erlebte nicht los.“

Ob auf Norderney, in Bad Tölz oder im westfälischen Bad Sassendorf: Öffentliche Träger, Unternehmen und karitative Verbände finanzierten die Kindererholungskuren. Allein in Bad Sassendorf waren zwischen 1950 und 1990 jährlich mehrere Tausend Kinder im Alter von drei bis 14 Jahren in größeren und kleineren Einrichtungen untergebracht. Dabei spielten besonders nach dem Zweiten Weltkrieg schlechte Wohnbedingungen und Mangelversorgung wie etwa im Ruhrgebiet eine Rolle. Zahlreiche Kinder sollten aufgrund ihrer „schwächlichen Konstitution“ an Gewicht zunehmen und „aufgepäppelt“ werden. Durch Solebäder, Inhalation und Bewegung an der frischen Luft versuchte man eher unspezifische Krankheitsbilder zu kurieren. Was haben die sogenannten Verschickungskinder in den Einrichtungen erlebt? Welche Schicksale sind ihnen widerfahren, welche Traumata haben sie durch die Verschickungen erlitten? Welche Erziehungsbilder und Leitgedanken herrschten in den Kinderkureinrichtungen vor? Antworten auf diese und weitere Fragen möchte das Forschungsprojekt „Kinderkuren in Westfalen. Soziale und kulturelle Praktiken in Kinderkurheimen in Bad Sassendorf (1950-1990)“ vom Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster und von dem Museum „Westfälische Salzwelten“ liefern.

Digitaler Rundgang zu den ehemaligen Standorten der Kinderkurheime

Im Speisesaal musste gegessen werden, was auf den Tisch kam.<address>© Westfälische Salzwelten</address>
Im Speisesaal musste gegessen werden, was auf den Tisch kam.
© Westfälische Salzwelten
Erstmals soll die Geschichte der Kinderkuren in Bad Sassendorf und die Geschichte der Menschen, die dieses Kinderkurwesen entweder als Patientinnen und Patienten oder Mitarbeitende einer Kinderkureinrichtung erlebt haben, aufgearbeitet werden. Zu Wort kommen neben Betroffenen auch Mitarbeitende der früheren Heime sowie Bürger aus Bad Sassendorf. Geschichtsstudierende führten in Seminaren und Workshops unter anderem Zeitzeugengespräche und recherchieren in Archiven. Daraus entsteht ein digitaler Rundgang durch das Heilbad. Der 3-D-Tourguide – der voraussichtlich ab 2022 über die App „Westfälische Salzwelten“ aufgerufen werden kann – macht den Kuralltag erlebbar. Im Mittelpunkt des Ortrundgangs zu den ehemaligen Standorten der Kinderkurheime steht die fiktive Figur Petra, mit der exemplarisch das Schicksal der Verschickungskinder beleuchtet wird. Umfangreiche Hintergrundinformationen ordnen die Geschehnisse historisch ein. „Außerdem stellen wir durch den Citizen-Science-Ansatz – der Bürgerwissenschaft – die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven sicher. Dadurch wollen wir Vorurteile ausräumen und den Dialog zwischen den Gruppen fördern“, betont Projektleiterin Dr. Lena Krull vom Historischen Seminar der WWU. Das Vorhaben gewann im Jahr 2020 den mit 7.500 Euro dotierten „Citizen-Science-Preis der Stiftung WWU Münster“.

Historie der Kindererholungskuren seit dem 19. Jahrhundert

Die Entstehung der Kindererholungskuren geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Aufgrund der zunehmenden Urbanisierung und zur Tuberkulosevorsorge wurden die ersten Kinderkurheime und Ferienkolonien gegründet. Während des Ersten Weltkriegs erfolgte eine systematisch umgesetzte Kinderlandverschickung, die die Provinzialverbände in Westfalen und im Rheinland seit den 1920er-Jahren durch die Kindererholungsfürsorge übernahmen. An das System wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland angeknüpft. Von 1939 bis 1945 führte die NS-Volkswohlfahrt die „Erweiterte Kinderlandverschickung“ durch.

„Meiner Ansicht nach muss die Geschichte bei der Untersuchung miteinbezogen werden“, erläutert Lena Krull. Warum es trotz des positiven Grundgedankens von Kinderkuren zu Misshandlungen der Schutzbefohlenen kam, sei nicht trivial zu beantworten: „In den Einrichtungen gab es strenge Hierarchien, wenig Personal und einen straffen Tageszeitplan“, führt Projektleiterin Jeanette Metz vom Museum „Westfälische Salzwelten“ aus. „Die Kinder wurden zum Teil nicht individuell betreut, sondern mussten sich dem vorgegebenen Kursystem und seinem festen Tagesablauf fügen. Die in Zeitzeugenberichten angeführten Misshandlungen umfassen ein breites Spektrum.“

Dazu gehörte unter anderem, dass das Personal die Inhalte von Postkarten an die Eltern beeinflusste und kontrollierte. Auch beim Essen wurde Druck auf die Kinder ausgeübt, alles zu verspeisen, auch wenn sie keinen Hunger mehr hatten oder das Essen nicht mochten. Sogar der Toilettengang war nur zu bestimmten Tageszeiten möglich. „Die Kinder konnten nicht selbst über ihre Körper bestimmen und mussten ihre Gefühle wie Heimweh verbergen“, schildert Jeanette Metz. „Viele Betroffene haben ein Interesse daran, über die Ereignisse zu sprechen. Manche Zeitzeugen berichten auch neutral bis positiv über die Kinderkuren“, ergänzt Lena Krull. Das System der Kinderverschickung in Deutschland ist bislang wissenschaftlich nicht hinterfragt worden. Neben Berlin, Baden-Württemberg und Niedersachsen gehört Nordrhein-Westfalen (NRW) zu den Bundesländern, die sich der Aufarbeitung nun annehmen. Im Landtag NRW gab es zuletzt am 7. Juni eine Anhörung zu dem Thema.

Auch Detlef Lichtrauter möchte mit seinen Erfahrungen einen Beitrag zur Aufarbeitung des Schicksals der Verschickungskinder leisten und beteiligt sich deshalb an dem Forschungsprojekt. „Ich bin persönlich davon immer noch sehr betroffen – obwohl die Ereignisse bereits 48 Jahre zurückliegen“, sagt Detlef Lichtrauter, der sich als nordrhein-westfälischer Landeskoordinator in der Initiative Verschickungskinder engagiert. „Wir wünschen uns, dass die Mechanismen des Systems erforscht werden, damit so etwas in Zukunft nicht noch einmal passieren kann.“

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