Einblicke in die Welt des Waldorfkonzepts

Die Raheen Wood Community National School ist eine staatliche Schule, die das Waldorfkonzept in ihrer Grundschulbildung umsetzt. Die Grundschule ist in drei Gruppen unterteilt, jede bestehend aus zwei Klassen. Das bedeutet, dass Erst- und Zweitklässler, Dritt- und Viertklässler sowie Fünft- und Sechstklässler gemeinsam unterrichtet werden. Die Schüler*innen haben somit während ihrer Schulzeit alle Lehrer*innen einmal durchlaufen, denn alle zwei Jahre wechseln sie die Klassenlehrerinnen und unterstützenden Lehrkräfte.

Während meines Praktikums habe ich die Aufsicht über die Klassen 1 und 2 übernommen. Kinder auf Waldorfschulen werden häufig mit sieben Jahren eingeschult, manchmal aber auch früher oder später. Es ist deutlich zu merken und zu Beginn echt ungewohnt, dass die Kinder in der Klasse altersmäßig stark variieren im Gegensatz zu Klassen in Regelschulen. Die jüngsten 6-Jährigen haben eine andere Energie und Dynamik als die älteren 9-Jährigen, was zu einem spürbaren Altersunterschied führt. Obwohl die Kinder in unterschiedlichen Altersgruppen sind, pflegen sie eine harmonische Beziehung zueinander, was sich in einem engen Klassenverband zeigt.

Der Unterricht beginnt gegen 8.50 Uhr. Die Kinder kommen von draußen durch den Cloakroom direkt in den Klassenraum. Der Start des Unterrichts wird durch ein gemeinsames Steiner-Gedicht eingeleitet. Die Kinder beteiligen sich aktiv an diesem Ritual, indem sie passende Gesten gemeinsam mit den Lehrkräften während des Vortrags machen.

Straight as a spear I stand.

Strength fills my arms and legs.

Warmth fills my heart with love.

The sun with loving light

Makes bright for me each day.

The soul with spirit power

Gives strength into my limbs.

In sunlight shining clear

I reverence, Oh God,

The strength of humankind

Which thou, so graciously,

Hast planted in my soul

That I, with all my might,

May love to work and learn

From thee comes light and strength

To thee rise love and thanks.

(Nach 2 Wochen kann man dies dann auch auswendig.)

Die Klassenlehrerin geht in der ersten Unterrichtsstunde mit den Kindern das neue Datum sowie die Uhrzeit und die Wochentage auf Englisch und Irisch durch. Meistens spielen sie kleine Zahlenspiele, bei denen sie die Vorgänger und Nachfolger der Zahlen besprechen oder den Zahlenchor praktizieren (eine Hälfte der Klasse zählt in Einerschritten und die andere in Zehnerschritten, die Klassenlehrerin gibt das Stopp- und Weitersignal wie ein Dirigent). An anderen Tagen rezitieren sie gemeinsam Gedichte über mythische Figuren wie King Winter oder Jack Frost.

Meistens wird gleich danach eine Geschichte vorgelesen. Die Kinder hören zu, machen Vermutungen über den Verlauf der Geschichte und schreiben im Anschluss einen oder zwei Sätze in ihren Malblöcken. Hierzu malen sie auch ein Bild, welches die Lehrerin auf der Tafel vorzeichnet. Hierbei ist es wichtig zu bemerken, dass die Kinder nicht dazu gezwungen sind das Bild oder den Text komplett oder genau wie auf der Tafel abzuschreiben. So geschieht dann eine Art natürliche Differenzierung, wobei alle Kinder ihr Bestes versuchen. Einige schreiben alles ab und sind dann ganz schnell fertig, meistens die Zweitklässler, andere brauchen ein wenig länger und kriegen es noch in der vorgegebenen Zeit hin alles abzuschreiben, und andere schreiben wiederum nur einen der beiden Sätze ab.

Die Kinder schreiben ausschließlich mit Wachsmal- oder Buntstiften. Wenn sie merken, dass sie Fehler gemacht haben, melden sie sich und kriegen einen weißen Sticker auf die jeweilige Stelle, die ich dann verteilen darf, da sie keine Radiergummis benutzen. Texte werden nicht nochmal korrigiert, sondern am Ende einfach eingesammelt und zurückgestellt. So verbringen sie dann die ersten beiden Schulstunden und gehen dann um ca. 10.50 in die erste Pause.

Die Pausen sind 20 Minuten lang, in denen die Kinder auf dem Schulhof zusammenspielen. Währenddessen machen einige Lehrer eine Frühstückspause, während andere Pausenaufsicht haben. Nach der Pause haben die Kinder eine 20-minütige Frühstückspause, während ihnen von der Klassenlehrerin oder auch mir eine Geschichte vorgelesen wird. Die Lehrer, die vorher Pausenaufsicht gemacht haben, haben nun auch Pause.

 

Zu Beginn des Praktikums habe ich auch eine sehr wichtige Aufgabe für diesen Klassenraum bekommen. In der Schule sollen die Kinder in den ersten zwei Jahren ein ‚Reading Program‘ durchlaufen. Hierzu werden sie in 2-4er Gruppen aus dem Unterricht geholt und gehen dann eine Reihe von Büchern durch, die in ihrer Schwierigkeitsstufe immer komplexer werden. Das Ziel ist es, dass der Schüler am Ende des Programms ein ‚independant Reader‘ wird, also sich genug Kompetenzen angeeignet hat, um seine Lesefähigkeit eigenständig weiterzuführen. Die Schüler lesen dann jeweils eine Seite und fragen bei schwierigen Wörtern nach Hilfe. Am Ende reden wir nochmal kurz über das Buch oder spielen ein kleines Spiel, was das Thema des Buches aufgreift. Dies dauert pro Gruppe ca. 20 Minuten, wobei ich nicht mehr als 2 Gruppen pro Tag mache, fast immer, nachdem die Kinder ihr Frühstück oder Mittagsessen gegessen haben.

(Bücher für die Schüler, nach Stufen sortiert)

In der dritten und vierten Stunde wird normalerweise Irisch und Mathe unterrichtet. Im regulären Unterricht im Klassenraum lernen die Kinder je nach Thema beispielsweise Begriffe, die mit Weihnachten oder dem Wetter zu tun haben. Diese werden anschließend mündlich geübt, und oft folgt das Malen eines Bildes oder das Lesen einer Geschichte auf Irisch. Im Mathematikunterricht werden die Klassen gelegentlich getrennt, da die Erstklässler noch nicht so weit sind wie die Zweitklässler und daher mehr Zeit benötigen, um die Themen richtig zu verstehen.

Um 12.50 Uhr gibt es dann wieder eine Pause, gefolgt von einer weiteren Pause für das Mittagessen. Während dieser Pause wird die Geschichte aus der ersten Frühstückspause fortgesetzt. Die letzte Stunde variiert je nach Tag. Manchmal wird gesungen, gemalt oder die Flöte geübt. Ein anderes Mal gehen die Kinder für den Sportunterricht nach draußen, haben Handarbeitsunterricht, lernen das Besticken oder Stricken, nehmen am Sachkundeunterricht teil oder die Stunde wird genutzt, um den Unterrichtsinhalt zu wiederholen. Zwischendurch dürfen die Kinder des Schachclubs die letzten 45 Minuten nutzen, um gegeneinander Schach zu spielen, was sie mir zurzeit auch begeistert beibringen. So endet der Schultag um 14.50 Uhr, die Kinder können dann nach dem Abschiedsgruß oder -gedicht von den Eltern abgeholt oder mit dem Schulbus zurückgebracht werden.

Am Ende fege ich noch einmal durch die Klasse, und so endet mein Arbeitstag normalerweise. Das Abschlussgedicht lautet wie folgt:

Our work is done,

our day is past,

we’ll go our separate ways.

And I will hold so tight and fast to what I’ve learned today.

I’ve given with my heart and mind the effort my work needs.

And I will strive in me to find:

good thoughts,

good words,

good deeds.

Brave and true will I be,

Each good deed sets me free,

Each kind word makes me strong.

I will fight for the right!

I will conquer the wrong!

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich mich in der Schule und in der Klasse außerordentlich wohl fühle. Die Kinder der ersten beiden Klassen sind einfach wunderbar. Obwohl sie anfangs vielleicht etwas schüchtern waren, brechen sie schnell aus ihrer Zurückhaltung aus, und sobald man sie besser kennenlernt, reden sie ohne Punkt und Komma. Es fühlt sich an, als wäre ich schon eine unglaublich lange Zeit hier, obwohl es tatsächlich weniger als einen Monat her ist, seitdem ich angekommen bin.

Ich denke, Regelschulen könnten sich einige Aspekte von Waldorfschulen zum Vorbild nehmen. Hier erlebe ich, dass das Lernen auf eine natürlichere Weise erfolgt, es wird nicht dasselbe standardisierte Ergebnis von allen Kindern erwartet. Vielmehr wird auf ihre individuellen Fähigkeiten eingegangen. Die Art und Weise, wie Kunst und Musik in verschiedenen Fächern integriert werden, schafft einen Raum für kreative Prozesse. Das Vorlesen von Geschichten während der Essens fördert das genaue Zuhören und schafft eine gemeinsame Grundlage für den Austausch im Plenum.

Insbesondere das Fach Handwerk kann den Kindern eine Vielzahl von Fähigkeiten vermitteln. Durch die Arbeit an konkreten Projekten lernen die Schüler nicht nur die notwendigen Werkzeuge kennen, sondern müssen auch einen Überblick behalten, um den roten Faden nicht zu verlieren (wörtlich und im übertragenen Sinne). Beim Stricken beispielsweise entwickeln die Kinder ein tieferes Verständnis für Muster, das Abzählen und die Fähigkeit zur Konzentration. Es beeindruckt mich immer wieder zu sehen, welche beeindruckenden Werke die Kinder schaffen und wie viel Mühe und Engagement sie in ihre Projekte stecken.

Oft werde ich auch in interessante Gespräche mit den Lehrer*innen der anderen Klassen verwickelt und scherze auch gerne mit ihnen herum, was dazu führt, dass die Pausen wie im Flug vergehen. Die Kollegen sind jederzeit bereit, Fragen zu beantworten, und man fühlt sich hier wirklich außerordentlich willkommen. Die Schulatmosphäre ist einfach nicht zu übertreffen und ohne Zweifel bis jetzt der beste Teil meines Praktikums.

Über Selin

Heyhey! Mein Name ist Selin und ich bin 21 Jahre alt. Im Moment studiere ich das Lehramt an Grundschulen im siebten Bachelorsemester. Neben den obligatorischen Fächern Deutsch und Mathe habe ich mir Englisch als drittes Fach ausgesucht! Zurzeit bin ich in Tuamgraney, Irland und mache dort ein Praktikum an der Raheen Wood Community National School, einer irischen Waldorfschule. Ich werde versuchen, so viele Eindrücke wie möglich festzuhalten und diese mit euch zu teilen!

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