Hoffen, dass eine Dusche frei ist. Dass der Aufzug schnell kommt, nicht zu voll ist und man hineinpasst und er dann nicht auch noch auf jeder Etage hält. Dass beim Frühstück keine Schlange ist. Dass man eine grüne Ampelphase (hier also eine weiße Ampel-Männchen-Phase) erwischt und sich mit Erfolg durch die strömenden Menschenmassen, ohne einen größeren Zusammenstoß oder ein Auf-Die-Füße-Treten, wuseln kann. Wobei New Yorker aber keinesfalls aufgrund der Ampel stehen bleiben – sobald es möglich ist, läuft jeder einfach über die Straße. Wer bei rot stehen bleibt obwohl kein Auto kommt, ist definitiv Tourist.
Dann ist hoffentlich auf der Metro Karte noch Geld drauf und die Subway fährt nicht gerade vor den eigenen Augen weg. Wenn dann die nächste kommt, ist im besten Fall noch ein wenig Platz, sodass man sich gerade so herein quetschen kann.
Ich arbeite Downtown in der Kanzlei Lansner & Kubitschek, etwa 10 Minuten zu Fuß entfernt vom World Trade Center. Die Zeit, die ich brauche, um dorthin zu gelangen, variiert sehr stark von den gerade genannten Faktoren.
Je nachdem, zu welcher Zeit man anfängt zu arbeiten, muss man jedoch einige Geduld mitbringen. Die meisten Arbeitnehmer in New York beginnen zwar nicht allzu früh morgens, arbeiten jedoch meist dafür bis spät am Abend. Mir ist es auch schon passiert, dass ich morgens um halb neun zwei Bahnen abwarten musste weil diese bereits komplett überfüllt waren, bis ich mich endlich mit ein wenig Durchsetzungsvermögen und Ellebogeneinsatz in die dritte Bahn herein quetschen konnte. Noch vollkommen verschwitzt von den gefühlten 40 Grad Celsius an der U-Bahn Station, steht man dann zwar mit etwa 100 Menschen in einem Waggon, fängt jedoch aufgrund des Air Conditioning trotzdem an zu frieren. Die Bahnen werden aufs Extremste runtergekühlt. Bei diesen Temperaturwechseln nicht krank zu werden ist schon ein Kunststück.
Ich habe jedoch meistens das Glück, erst um 9:30 Uhr an meinem Arbeitsplatz sein zu müssen. Zu dieser Zeit hat sich die Rush Hour am morgen schon ein bisschen gelegt.
So viel zu meiner morgendlichen Anreise. Die Familienrechtskanzlei am Broadway wird von Carolyn Kubitschek und David Lansner geleitet. Die Arbeitsatmosphäre ist sehr entspannt, man spricht sich mit Vornamen an und alle sind super freundlich und hilfsbereit. Zudem sind wir insgesamt fünf Praktikanten und man kann sich bei Problemen und Fragen gegenseitig helfen.
Die Arbeit von Lansner & Kubitschek kann man in drei große Bereiche einteilen: Civil Rights, Family Law und Social Security Cases.
Die Kanzlei vertritt also Familien, die durch verfassungswidrige Handlungen der „New York City Administration for Children’s Service“ (kurz: ACS) getrennt wurden. In einigen Fällen wird den Eltern vorgeworfen, ihre Kinder misshandelt zu haben, wobei diese sich lediglich durch einen einfachen Unfall Verletzungen zugezogen haben. Oft ist es in solchen Situationen gerade für nicht so gut gestellte Familien schwierig, sich gegen ACS durchzusetzen und zu beweisen, dass die Verletzungen ihrer Kinder ausschließlich von einem Unfall stammen oder evtl. einer Krankheit, die nicht durch die Eltern herbeigeführt wurde. Bei einem Verdacht auf Misshandlung ist der Arzt oder das Krankenhaus verpflichtet, die Stadt New York einzuschalten. Bestätigt sich nach deren Einschätzung der Verdacht, werden die Kinder in Pflegefamilien geschickt. Erstaunlich oft wurden jedoch in der Vergangenheit Fehler bei solchen Einschätzungen gemacht und die Kinder zu Unrecht von ihren Eltern getrennt, oder den Eltern zu Unrecht der Besuch verweigert.
Weiterhin vertritt die Kanzlei Kinder, die in ihren Pflegefamilien nicht richtig versorgt oder sogar misshandelt werden. Dabei ist es eigentlich die Aufgabe von ACS und deren Vermittlungsbehörden, dafür zu sorgen, dass die Kids in einer sicheren Umgebung untergebracht werden.
Die Kanzlei vertritt Mandanten im Hinblick auf Besucherrechte und bei Sorgerechtsstreitigkeiten vor dem Family Court sowie dem Supreme Court.
Außerdem vertritt Lansner & Kubischek Menschen, denen die Anerkennung zur Arbeitsunfähigkeit verwehrt wurde, oder bei denen die Zahlung der Rente gefährdet ist. New York hat sehr strenge Vorstellungen bezüglich des Begriffes der
Arbeitsunfähigkeit. Eine Person ist demnach immer noch in der Lage zu arbeiten, „as long he or she can fill paper cups into paper cups“. Damit ist gemeint, dass selbst jemand, der nicht mehr stehen oder laufen kann und sogar vielleicht nicht mehr in der Lage ist, zu schreiben oder zu sprechen, nicht zwangsläufig arbeitsunfähig ist, solange er noch in der Lage ist, irgendeiner Arbeit nachzugehen.
Viele Fälle, mit denen ich mich in den letzten Wochen beschäftigt habe, sind demnach sehr persönlich und emotional. Das ist natürlich auch nicht verwunderlich, es geht um den Lebensunterhalt oder sogar die eigenen Kinder.
Ich konnte schon an mehreren Interviews von potentiellen Mandanten teilnehmen, einige Rechercheaufgaben übernehmen und Gerichtsverhandlungen im Family Court, im Criminal Court sowie im Supreme Court besuchen. Die Verhandlungen hier unterscheiden sich sehr stark von denen in deutschen Gerichten. Beispielsweise im Criminal Court hat der Angeklagte das Recht auf eine Jury, bestehend aus 12 Menschen, die weder etwas mit dem Fall, noch mit Jura im allgemeinen zu tun haben. Sobald man 18 Jahre alt und US-amerikanischer Staatsbürger ist, kann man für den Jury-Dienst vorgeladen werden. Man muss dabei an jedem Tag der Gerichtsverhandlung teilnehmen, diese kann bis zu fünf Wochen oder sogar länger andauern. Es ist den Jurymitgliedern nicht gestattet, sich in dieser Zeit untereinander, oder mit jeglichen anderen Personen über den Fall auszutauschen. Auch sollten sich diese nicht im Internet oder sonstigen Medien über den Fall informieren, sondern komplett unvoreingenommen sein. Die Arbeitgeber der Juroren sind dabei nicht verpflichtet weiterhin Lohn zu zahlen, sie bekommen lediglich eine sehr geringe Entschädigung.
Die Jury entscheidet am Ende der Verhandlung, ob die Staatsanwaltschaft ausreichend bewiesen hat, dass der Angeklagte schuldig ist und zwar beyond a reasonable doubt. Die Juryentscheidung soll also die Gemeinschaftswerte der Gesellschaft widerspiegeln und eine staatliche Willkür verhindern. Jedoch ist es gerade in komplexen Fällen sehr fraglich, ob diese Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und sehr stark variierenden Konzentrations- und Auffassungsvermögen, alle Einzelheiten des Verfahrens richtig verstehen können und beispielsweise technische oder ökonomische Fragen überhaupt beantworten können. Weiterhin beansprucht eine Jury viel Zeitaufwand und damit verbunden sehr hohe Kosten.
Insgesamt kann ich also sagen, dass ich trotz teilweiser stressiger Anfahrten und enormer Unterschiede zu Deutschland, ein interessantes und lehrreiches Praktikum absolvieren darf, welches mir sicherlich vor allem in den Fächern der Fachspezifischen Fremdsprachen-Ausbildung weiterhelfen wird. Auch Nicht-Juristen kann ich außerdem empfehlen, falls bei einem Besuch in den USA mal etwas Zeit übrig ist, sich einen Jury Trial einfach mal anzuschauen!