In der Fremde: interkulturelle Erfahrungen in Ungarn

Wenn man in der eigenen gemütlichen Welt aufwächst und man dann woanders hingeht, dann wird man mit sich selbst konfrontiert. Man muss erklären, wer man ist. (Inuk Silis Høegh, Kulturaustausch 2/2015, S. 61)

 

Ich für mich muss vor allem erklären, wo ich herkomme. Deutschland, ein eher abstrakter, diffuser Begriff, bekommt in der Fremde plötzlich ungeähnte Schärfe, in Abgrenzung zu meinem Gastland Ungarn.

Vertraut sind mir die eher kleinstädtisch anmutenden Strukturen Debrecens, fremd die Häuser, die Straßen, selbst die Gehwege. Teilweise bestehen sie nur aus einem schmalen, gelegentlich nicht gepflasterten Streifen, und der Großteil wird von einer Wiese, auf der Büsche und Bäume wachsen, eingenommen, die sich zwischen Gehweg und Straße erstreckt.

Blick auf den Grünstreifen
Blick auf den Grünstreifen
Kleine Seitenstraße
Kleine Seitenstraße
Blick auf ein Haus
Blick auf ein Haus
Interessantes Haus in Ungarn
Interessantes Haus in Ungarn

Auch die Natur ist eine andere, als die mir vertraute, norddeutsche: andere Bäume, Büsche, anderes Gras… Es ist alles ein wenig anders und vielleicht ist es gerade das, was die Unterschiede besonders deutlich zu Tage treten lässt.

Die Menschen sind freundlich, gastfreundlich (man darf nur nicht über die richtigen, also aktuellen, Themen sprechen, wie mir gestern die ÖAD-Lektorin mitteilte…). Zugleich sind sie aber auch sehr familienorientiert. Das Studium ist, zumindest für die Studenten mit niedriger Semesteranzahl, erstmal eher wie eine Fortsetzung der Schule, als wie ein neuer Lebensabschnitt, der in die Selbstständigkeit und zur Abnabelung von den Eltern führt. Dementsprechend stark ist die Bindung zur Familie. Das äußert sich wohl auch darin, dass viele Studenten über das Wochenende nach Hause fahren. Eine wirklich spürbare Studentenkultur, spürbar auch für Ausländer, die kein Ungarisch sprechen, ist kaum zu bemerken, wie ich aus Gesprächen mit meiner Mitbewohnerin erfahren habe. Vorherrschend sind hier eher die etwas verschlafen wirkenden, aber durchaus gemütlichen, kleinstädtischen Strukturen. Das ist für mich irritierend, weil ich den Sitz von Universitäten gemeinhin eher mit Großstadt assoziiere und einem entsprechend ausgereiftem, kulturellen Umfeld (aber selbst in Deutschland gibt es entsprechende Gegenbeispiele).

Gestern war ich, um mal ein aktuelles, kulturelles Beispiel der Grenzüberschreitung zu nennen, auf einem Jazzkonzert im DMK. Die Musik war wundervoll (technisch sowie musikalisch hervorragend) und eine Möglichkeit einen schönen Abend zu verbringen, der auch ganz ohne Ungarischkenntnisse genossen und verstanden werden konnte. Der Jazz ist von den ungarischen Musikanten so leidenschaftlich verinnerlicht worden, dass eine Atmosphäre entstanden ist, in der Sprache und das Bewusstsein in der Fremde zu sein eine untergeordnete Rolle spielte. Die Freude und die Schönheit der Musik ist international und grenzüberschreitend und für die Zeit des Konzerts war es eigentlich egal, dass ich gerade in Debrecen war. Ich hätte auch ganz woanders oder in Münster sitzen können, weil die Musik einen grenzenlosen Raum schafft, wo Parameter wie Fremdheit oder Vertrautheit ohne Bedeutung sind.

In Debrecen gibt es, sichtbar durch unzählige Denkmäler, Kränze, Nationalflaggen etc., einen sehr viel stärkeren Bezug zur Nation als in Deutschland (was auch nicht sehr schwierig ist, da man in allen anderen Ländern außer in Deutschland einen sehr viel stärkeren Bezug zur Nationalität hat). Das ist für mich einerseits merkwürdig und wirkt seltsam übertrieben, fast schon hysterisch, auf mich, weil ich das einfach in dieser Art und Weise nicht kenne. Andererseits weiß ich aber auch, dass dieses Thema in anderen Ländern sehr viel unbekümmerter behandelt wird, als in Deutschland. Ich nehme das so wahr und nehme das hin, aber ich selbst entwickele dadurch keine besonderen Gefühle in Bezug auf meine eigene Staatsangehörigkeit. Weil sie für mich genau das ist und bleibt, eine Staatsangehörigkeit, ein Pass, den ich brauche, weil es nicht ohne geht. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, worauf sollte ich auch stolz sein, dass ich zufälligerweise in Deutschland geboren wurde? Trotzdem bleibt es mein Land, weil ich seine Sprache spreche, sein Kultur teile und mir die Landschaft, ja selbst sogar das oft kühle, nasskalte Wetter des Münsterlandes, vertraut ist. Es ist mir vertraut und es ist gut, dass Vertraute zu verlassen, um zu erfahren, wie man zur eigenen Herkunft steht, das Fremde kennenzulernen, das Vertraute aus fremder Perspektive betrachten und das Fremde aus vertrauter Perspektive sehen. Eben den Horizont zu erweitern und Grenzen zu überschreiten. Und es ist gut mit diesen Erfahrungen zurückzukehren und reicher daran zu sein, als vorher. 🙂

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