Bittschreiben einer Jüdin

Eine Jüdin – so ist dieser undatierte Brief unterzeichnet – wendet sich an Papst Pius XII. Bei der Datierung und Einordnung des Schreibens helfen die Protokollnummer und der Inhalt des Briefes. Die anonyme Verfasserin bezieht sich nämlich auf die Weihnachtsansprache von 1942, in der Pius XII. in „sechs Gelöbnissen“ die Schrecken des Krieges gegeißelt hat. Sie berichtet von der Deportation ihrer gesamten Familie, von der sie seit langer Zeit kein Lebenszeichen erhalten hat. Alle Versuche, über das Rote Kreuz oder die Nuntiatur in Ungarn Informationen über ihre Angehörigen zu erhalten, scheiterten. Nachdrücklich und in Anlehnung an die in der Weihnachtsansprache feierlich formulierten Gelöbnisse appelliert sie an den Papst, fleht um sein Erbarmen für die vielen unschuldigen Jüdinnen und Juden und bittet um Hilfe in Form von Kleidung, Nahrung, Medizin und menschlicher Behandlung. Ihr Bittschreiben wurde ohne eine Antwort oder einen Vermerk in den Akten abgelegt.

An seine Päpstliche Hoheit, den Heiligen Vater in Rom!

Tief ergriffen, und heisse Tränen vergiessend, habe ich die Weihnachtsrede Eurer Heiligkeit gelesen! Die edlen und erhabenen Worte Eurer Heiligkeit über die Grundlagen allen menschlichen Zusammenlebens, geben mir den Mut mich mit einer grossen, heissen Bitte, an Eure Heiligkeit zu wenden!

Ich bin Jüdin! Also ein Glied dieser so furchtbar gehassten und verfolgten Glaubensgemeinschaft! In der Slowakei geboren und durch Heirat vor Jahren nach Ungarn gekommen. Meine teure Mutter, und meine Schwestern, meine ganze sonstige Familie, Onkel, Tanten, Cousins, Sie alle, und Tausende und Abertausende, mit Ihnen, mussten im Laufe des vergangenen Jahres Ihr Land, Ihre Heimat, Ihr Heim, Ihr gesamtes Hab und Gut, verlassen! Sie wurden nach Russisch-Polen deportiert und lange, lange Monate sind vergangen und kein Lebenszeichen kommt von Ihnen! Ich habe versucht durchs Rote Kreuz nachzuforschen! Durch die Päpstliche Nuntiatur in Budapest! Alles, alles vergebens!

Oh Heiliger Vater der Christlichkeit! Aus der Tiefe, aus dem Staub in den wir armen Würmer getreten wurden, aus gepresstem, übervollem Herzen, erhebe ich meine Stimme, und bete und flehe!

Erbarmet Euch der vielen Tausenden und Abertausenden, die unschuldigerweise leiden! Die der menschlichen Willkür, der bitteren Kälte, dem Hunger, Not und Tod preisgegeben, zugrunde gehen! Sendet Hilfe! Warme Kleidung, Essen, Arzneien, und menschliche Behandlung!
Erbarmet Euch der vielen Mütter und Väter willen, die weggerissen wurden von Ihren Kindern!
Erbarmet Euch der vielen Kinder willen, die weggerissen wurden von Ihren Müttern und Vätern!
Erbarmet Euch der vielen kleinen, unmündigen Kinder willen, der unschuldigen Kinder willen, die doch bestimmt noch jenseits sind von Gut und Böse.
Erbarmet Euch um Gottes heiligen Namen willen! Erbarmet Euch!
Wir sind ja dennoch auch ebenso Menschen, wie sonst alle Schöpfung Gottes!
Wir werden ebenso geboren und vergehen ebenso! Es gibt doch zwischen uns auch Edle und Fromme! Es gibt doch zwischen uns ebenso Gute und Böse, Brave und Schlechte, wie zwischen allen Menschen der Gesammtheit!

Oh! Heiliger Vater des Christentums! Erbarmet Euch!
Mit Tränen, der bittersten Tränen, die je ein Menschenherz vergossen hat, bete und flehe Euch an! Sendet Hilfe! Erbarmet Euch!

Archivio Storico della Segreteria di Stato, Pio XII, Ia parte, Cecoslovacchia 175, fol. 568r