Bittschreiben von Siegbert Steinfeld

Heiliger Vater

   In einer verzweifelten hoffnungslosen Situation wende ich mich in aller Demut an Eure Heiligkeit, um Euren Schutz und Bestand zu erflehen.
   Ich bin geboren am 13. Januar 1909 in Berlin, von rumänischen Eltern jüdischer Rasse. Mein Vater war erster Kantor an der Gartengemeinde in Capetown und ging von dort nach Berlin, wo er ebenfalls als erster Kantor bei der Großen Jüdischen Gemeinde fungierte. Er starb im Jahre 1930.
   In Berlin besuchte ich das Königstädtische Realgymnasium. Vom Vater eine gute Stimme geerbt, sang ich bereits als Knabe im Berliner Domchor unter Leitung von Professor Hugo Rüdel. Da sich meine Stimme sehr gut entwickelte, gaben meine Eltern ihr Einverständnis, mich die Sängerlaufbahn einschlagen zu lassen. Mit zwanzig Jahren erhielt ich einen Freiplatz an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin, an welcher ich eine sehr gute Ausbildung erhielt. Von Kindheit an in einem musikalischen Hause erzogen und mit der Musik aufgewachsen, fiel es mir nicht schwer [179v] während meiner Studienjahre, mir ein aussergewöhnlich umfangreiches Opern- und Liederrepertoire anzueignen. Ich erhielt das Reifezeugnis mit Prämie, aber die politische Umwälzung in Deutschland, machte es mir unmöglich ein Engagement zu finden. Im Jahr 1935 wurde ich vom Berliner Jüdischen Kulturbund engagiert und sang dort die ersten Baritonpartieen [sic]. Im Rahmen des Kulturbundes gab ich in Berlin, sowie in der Provinz zahlreiche Konzerte und fand bei Publikum und Presse große Anerkennung. Die Umstände aber wurden immer schwieriger und im Jahre 1937 beschloß ich nach Italien zu gehen um mich im Lande des bel canto weiter zu vervollkommnen. Da ich nie in Rumänien war und auch die Sprache nicht beherrsche, verweigerte mir das rumänische Konsulat in Berlin, die Ausstellung eines Passes und ich erhielt einen deutschen Pass für Staatenlose. Ich machte eine Eingabe an das Innenministerium in Rom, meine Studien in Italien fortsetzen zu dürfen, und erhielt die Erlaubnis. Mit Genehmigung der deutschen Behörden, reiste ich im November 1937 nach Milano. Dort studierte ich ein halbes Jahr, siedelte dann nach Rom über, um hier mein italienisches Repertoire zu erweitern. Im Jahre 1938 erhielt ich einen Vertrag vom staatlichen Radio in Porto Alegre in Brasilien. Das hiesige brasilianische Konsulat verweigerte mir aber als staatenlosen [sic] Juden die Einreise. [180r]
   Am 18. Juni 1940 wurde ich aus Rassegründen verhaftet. Nachdem ich drei Wochen im Kerker war, wurde ich nach Ferramonti (Provinz Cosenza) in das dortige Konzentrationslager gebracht.
   An das kulturelle Leben, welches sich dort sehr schnell entwickelte, nahm auch ich starken Anteil. Es wurde mir erlaubt Konzerte zu veranstalten. Ich war Lehrer an der Schule und gründete einen Jugendchor. Auf Veranlassung Seiner Hochwürden des Pater Callisto de Lopinot, stellt ich dort, wie auch schon früher in Berlin, meine Dienste der Kirche als Solosänger zur Verfügung. Im Mai 1942 wurde ich auf Antrag in das confine libero nach Picinisco (Provinz Frosinone) versetzt. Auch dort sang ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in der Kirche. Leider erhielt ich nach kurzer Zeit die Nachricht, daß meine Mutter von Berlin nach Polen transportiert wurde und trotz aller Eingaben und Nachforschungen, konnte ich bis heute ihren Aufenthaltsort nicht ausfindig machen.
   Am 10. Oktober vergangenen Jahres wurde Picinisco plötzlich von deutschen Truppen besetzt und ich floh in eine Grotte, wo ich zwölf Wochen unter den ungünstigsten Umständen lebte. Die Grotte bot keinen Schutz gegen Regen und Kälte. Nur mit einer leichten Decke ausgestattet lebte ich tagelang vom Regen durchnäßt, fast immer nur im liegenden Zustand, da die Grotte keine Bewegungsmöglichkeit bot. Feuer konnte ich auch nicht machen, [180v] aus Furcht bemerkt zu werden. Von Hirten und Freunden, die mich mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgten, hörte ich, daß ich von den Deutschen gesucht wurde. Mein gesamtes Besitztum, darunter eine zum Teil vom Vater ererbte sehr umfangreiche Musikbibliothek wurde teils beschlagnahmt, teils vernichtet. Die Hoffnung, daß sich die Situation jeden Tag ändern würde, gab mir die Kraft weiter in der Grotte auszuharren.
   Ende Dezember kam die Nachricht, daß Picinisco von der Bevölkerung geräumt werden muß und daß eine Absuchung der Grotten stattfände. Um diese Zeit setzte auch der Schneefall sehr stark ein, die Kälte wurde unerträglich.
   In der Nacht zum 30. Dezember, kehrte ich, geistig und körperlich vollkommen erschöpft mach Picinisco zurück, wo ich mich in einem Bauerhause einige Tage verborgen halten konnte. Es kam der offizielle Befehl Picinisco zu räumen und mit Hilfe der dortigen italienischen Behörden machte ich mich auf den Weg nach Rom. Teils zu Fuß, teils per Wagen erreichte ich vor einer Woche Rom, ohne Dokumente, ohne Mittel und in vollkommen abgenutzter Kleidung. Es gelang mir ein befristetes Unterkommen zu finden, welches ich aber schon in den nächsten Tagen räumen muß.
   So bin ich ratlos, was ich beginnen soll und erlaube mir Eure Heiligkeit um Schutz zu bitten, um nicht in die Hände meiner Verfolger zu fallen.
   Mich erhält die einzige Hoffnung, daß Eure Heiligkeit mir während der kritischen Zeit in einem exterritorialen Besitz Asyl zu geben vermag, [181r] um damit mein Leben zu retten. Ich bin mit Freuden bereit jede von mir geforderte Arbeit dortselbst zu verrichten.
   Ich knie demütigst zu den Füssen Eurer Heiligkeit und bitte um den apostolischen Segen

                                                           Siegbert Steinfeld

Rom den 17. Januar 1944

Archivio Apostolico Vaticano, Segreteria di Stato, Commissione Soccorsi 303, fasc. 1, fol. 179-181r