Neue Perspektiven aus eigener Anschauung

Zwei Wochen nach Beendigung meines Praktikums in Usbekistan bin ich wieder gut im deutschen Alltag angekommen und möchte nun aus einiger Entfernung überlegen, wie sich meine Weltsicht durch das Praktikum verändert hat. Zunächst habe ich nach meiner Rückkehr einiges bemerkt, was mir vorher niemals aufgefallen wäre.

Ich hatte nach meiner Einreise nach Deutschland, die sich im Vergleich zu Usbekistan sehr unbürokratisch darstellte, tatsächlich ein Gefühl von Freiheit. Am Flughafen sah ich auf einer Leinwand die Nachrichten. Die Koalitionsverhandlungen für Jamaika werden vorbereitet. Ich bemerkte, dass es eigentlich ein großes Glück ist, dies lesen zu können. Unabhängig, was ich von welcher Partei halte, kann ich doch froh sein, in einer funktionierenden Demokratie zu leben. Als ich noch in Taschkent in der deutschen Botschaft die Wahlberichterstattung zur Bundestagswahl sah, wurde ich von einem der eingeladenen usbekischen Gäste gefragt, wie es sein könne, dass nur 33% für Frau Merkel stimmten. In Usbekistan seien es immer mindestens 90%, die den Präsidenten stützen und das seit vielen Jahren, bis zu seinem Tod vor einem Jahr. Aus Verdutzen über die Frage und aus Vorsicht habe ich keine Antwort gegeben. Rückblickend finde ich es noch sonderbarer, wie sehr die Usbeken ihren autoritären Präsidenten verehren. Manche meinen es dabei ganz ernst, wenn sie sagen, dass er großes für das Land getan hat. Da Politik kein gängiges Gesprächsthema in Usbekistan ist, weiß ich natürlich, bis auf eine Ausnahme, die ich aber natürlich geheim halte, nicht, was die Usbeken wirklich denken. Diese Menschen kennen kein Leben in Freiheit. Sie kennen entweder das nationalistische Usbekistan nach der Unabhängigkeit oder sie kennen noch die Sowjetunion. Daher ist es aber umso wichtiger, dass ein reger Austausch, grade auch mit Deutschland, das selbst auch keinen leichten Weg zur Freiheit hatte, besteht, damit die Usbeken ihren Fokus erweitern und kennenlernen können, wie das Leben auch aussehen könnte.

Meine Zeit in Usbekistan war der erste Kontakt mit einem Staat, der nicht demokratisch regiert wird. Bei der Vorbereitung zum deutschen Abend, der als große Veranstaltung der Höhepunkt zum Abschied von Usbekistan sein sollte, haben meine Komillitonin Vivien und ich nach traditionellen deutschen Liedern gesucht, die wir mit den usbekischen Schülern singen könnten. Ziemlich bald kam uns das Lied „Die Gedanken sind frei“ in den Sinn. Nach einiger Abwägung haben wir uns entschieden, es tatsächlich einzustudieren und aufzuführen. Möglicherweise haben einige Schüler verstanden, welche verdeckte Botschaft wir vermitteln wollten. Hätte uns irgendjemand kritisiert oder gefragt, warum wir grade dieses Lied aufführen müssen, hätte wir immer antworten können, dass es ein über hundert Jahre altes, traditionelles Lied ist und da in Usbekistan die eigene nationale Tradition sehr hoch geschätzt wird und auch aufgrund der riesengroßen Gastfreundschaft in diesem Land, hätte niemand uns mit dieser Begründung etwas vorwerfen können.

Neben der erhöhten Dankbarkeit, in einer freiheitlichen Gesellschaft leben zu dürfen, haben sich aber auch andere Perspektiven ergeben. Wie bereits in meinen anderen Einträgen auf dieser Seite erwähnt, ist die Gastfreundschaft in Usbekistan, genau wie in den meisten orientalischen Staaten, sehr ausgeprägt und die Hilfsbereitschaft auch gegen Fremde sehr groß. Ein krasser Kontrast ist es, zu sehen, wie in Deutschland manche Menschen mit Fremden umgehen und wie ängstlich sie vor ihnen sind. Natürlich kann man sich in Deutschland allermeistens darauf verlassen, ehrlich und ordentlich behandelt zu werden. Gegen die überschwengliche Höflichkeit und Freundlichkeit der Usbeken erscheint dies allerdings eine Mindestmaß an Respekt zu sein und eigentlich eine ziemlich kalte Art. Vielleicht sollte man sich diesen kulturellen Unterschied im Kopf behalten, wenn man überlegt, wie es sich anfühlen muss, neu nach Deutschland gekommen zu sein. Wenn man eine Kultur kennt, in der einem Hilfe angeboten wird, sobald sie erforderlich ist (und schonmal auch, wenn sie gar nicht erforderlich ist) und in eine Kultur kommt, in der einem nur geholfen wird, wenn man fragt, ergibt sich möglicherweise schnell das Gefühl, allein gelassen zu sein.

Als ich von Düsseldorf Flughafen nach Duisburg gefahren bin, um meine Mutter zu besuchen, sind mir, wie man es ja für Duisburg kennt, sehr viele Ausländer im Stadtbild aufgefallen. Die meisten davon Türken. Auch die Usbeken sind ein Turkvolk. Dadurch, dass ich so lange unter ihnen gelebt habe und ihre Hospitalität erfahren durfte, ergibt sich ein Gefühl von Verbundenheit. Nachdem ich in Usbekistan andauernd von Fremden „aka“ (usbekisch „Bruder“) oder „brat“ (russisch) genannt wurde, wirkt es ganz anders, wenn man hört, wie sich zwei Deutschtürken unterhalten und dauernd „wallah, Bruder“ sagen. Man ist irgendwie näher dran am Menschen.

Eine Episode, die ich auf meiner Reise nach Samarkand erlebte, kommt mir wieder in den Sinn. In Samarkand besichtigen wir das Grab des Propheten Daniel, ein Prophet aus dem alten Testament, der Juden, Christen und Muslimen heilig ist. Die Muslime nennen ihn Doniyor, genau wie meinen besten usbekischen Freund. An solchen Orten, es gibt davon einige in Usbekistan, sitzt in der Regel ein Imam, der mit grade anwesenden Pilgern betet. Aus reinem Interesse habe ich gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn ich mitbete, da Doniyor schließlich auch von den Christen verehrt wird. Unsere usbekische Begleitung in Samarkand fragt kurz den Imam und nach einem kurzen verwunderten Blick lächelt er und winkt mir zu, dass ich kommen sollte. Er freue sich immer, wenn Menschen, „die an den rechten Gott glauben, den Weg zu ihm finden.“

Über einen solchen Akt der Toleranz und gutem Willen von Seiten eines Muslims war ich, ehrlicherweise, überrascht, wenn man bedenkt, wie der Islam im Westen bisweilen dargestellt wird. Zum Glück wiegt eine persönliche Erfahrung mehr als unsachliche Verallgemeinerungen und populistische Gemeinplatz-Argumente. Und um eine solche persönliche Erfahrung zu machen, lohnt es sich immer, ins Ausland zu fahren. Ich habe selbst erfahren, was es heißt in einer Diktatur zu leben, ich habe aber auch selbst erfahren, wie hilfsbereit Menschen sein können und dass Muslime manchmal sehr fortschrittlich denken können.

Wer etwas selbst erlebt hat, der weiss es aus eigener Anschauung. Er weiss es besser, als jemand, der alles glauben muss. Daher lohnt es sich immer, neue Sichtweisen kennenzulernen und eigene, möglichst fremde, Erfahrungen zu machen. Dafür war mein Aufenthalt in Usbekistan erfolgreich.

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