Grenzerfahrung

Das tägliche Pendeln zwischen meiner Wohnung in Münster und meiner Praktikumsstelle in Enschede nimmt zurzeit einen beträchtlichen Teil meiner (Frei)zeit in Anspruch, weshalb ich mich heute dazu entschieden habe, einen Beitrag darüber zu schreiben…

FrostZunächst einmal die Pendelei in Zahlen: Mit jeder gefahrenen Strecke lege ich etwa 70 km zurück, das sind 700 km in der Woche und ganze 8400 km während meines gesamten Praktikums. Damit verbunden sind jeden Tag zwei Überquerungen der deutsch-holländischen Grenze – aufsummiert wechsle ich so über die 12 Wochen also 120 Mal das Land. Die Zeit, die dabei „drauf geht“, beläuft sich auf etwa 4,5 Stunden pro Tag; das macht  insgesamt 270 Stunden. Ich bin also jede Woche etwa einen ganzen Tag lang nur unterwegs!

Da ich mit Bus und Bahn reise, gestaltet sich die Pendelei allerdings als relativ erträgliche Angelegenheit. Natürlich bringt das Ganze sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich; für mich überwiegen allerdings die Vorteile. Zwar gibt es Tage, an denen Zugfahren echt ätzend sein kann (Ihr kennt sicher das Sprichwort, man solle das Leben in vollen Zügen genießen…), aber dennoch habe ich dabei Zeit für Dinge, die ich vielleicht zuhause nicht gemacht hätte. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, lese ich z. B. oft englische Bücher oder schaue Serien auf Englisch, um meine Sprachkenntnisse aufzubessern. Das ist zwar keine echte Alternative zu einem Sprachkurs, aber der ist zeitlich während des Praktikums leider einfach nicht drin…Außerdem genieße ich oft auch einfach die Ruhe, schaue aus dem Fenster, lasse die vorbeifliegende Landschaft auf mich wirken. Vor allem früh morgens, wenn die Sonne gerade aufgeht, ist das immer ein ganz besonderer Anblick und einem wird bewusst, wie schön Reisen sein kann 🙂

Letztens, als ich mit dem Zug in Gronau stand (Bahnhof an der Grenze zu den Niederlanden), ist mir dann noch etwas anderes bewusst geworden. Zwei Zollbeamte stiegen zu und kontrollierten stichprobenartig die Personalausweise von Fahrgästen. Dabei wurden jedoch vor allem die Ausweise von Leuten kontrolliert, die rein äußerlich nicht deutscher oder niederländischer Herkunft zu sein schienen. Auf zwielichtige Gestalten, die man immer mal in den Zügen sieht, hatten die Zollbeamten es scheinbar besonders abgesehen…

Das Ganze hatte mich nachdenklich gestimmt. Einerseits fiel mir an diesem Tag wie Schuppen von den Augen, dass solche Grenzkontrollen an anderen Orten auf der Welt an der Tagesordnung sind, dass es gar Grenzen gibt, die man nicht einfach so zweimal am Tag überqueren kann…einige, die man gar nicht überqueren kann (und damit meine ich an dieser Stelle der Einfachheit halber nur die geographischen Grenzen!). Ich war plötzlich unheimlich froh, in diesem (welt)offenen Europa zu leben, was bei einem Blick in die Vergangenheit alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, auch wenn meine Generation es oftmals als eine Art natürliche Gegebenheit auffasst…Das weiß ich heute mehr zu schätzen, als zu Beginn meines Praktikums. Auch deshalb beobachte ich, wie viele andere junge Europäer auch, die wachsende Skepsis vieler Menschen gegenüber der Europäischen Union mit Sorge! Viele Menschen haben hart für unser geeintes Europa gearbeitet und tun es noch – und auch wenn die EU noch lange nicht perfekt ist bei der Vielzahl von Reibungspunkten und Streitthemen der Mitgliedsstaaten, so sollten wir nach Vorne schauen und froh sein, in dieser friedvollen Umgebung aufzuwachsen zu dürfen, in der sich die (meisten) Menschen sehr respektvoll behandeln.

Außerdem ist mir bei den Ausweiskontrollen bewusst geworden, dass wir noch lange nicht in einem Europa angekommen sind, in dem alle Menschen gleich behandelt werden und in dem viele mit Vorurteilen zu kämpfen haben, die leider tief in den Köpfen Vieler verwurzelt sind.  Den Zollbeamten in diesem Moment eine Form des Alltagsrassismus vorzuwerfen wäre meiner Meinung nach übertrieben, da sie sicherlich auch eine gehörige Berufserfahrung und vielleicht eine Art „Spürsinn“ besitzen, aber dennoch hatte das Ganze an diesem Tag für mich Symbolcharakter…

Ich merke gerade, dass aus meinem kleinen Artikel übers Reisen ein recht politischer Artikel geworden ist, was eigentlich gar nicht nicht geplant war. Ich lasse ihn allerdings so stehen, weil ich denke, dass meine Erlebnisse einige Probleme unserer heutigen Zeit in Europa widerspiegeln. Hier gibt es sicherlich auf allen Ebenen noch viel Gesprächsbedarf. Vor allem ist wichtig, dass jeder einzelne ein paar Grenzen in seinem Kopf einreißt, auch wenn man sie sich vielleicht nicht immer eingestehen will.

Die Pendelei während meines Praktikums in Enschede ist meine persönliche „Grenzerfahrung“, in mehrerlei Hinsicht. Ich erlebe täglich, wie viele Menschen von den offenen Grenzen profitieren können und damit sehr glücklich sind. Dabei erlebt man zwar schon mal seltsame Situationen wie die oben beschriebene, aber glücklicherweise überwiegen die schönen Erfahrungen deutlich!

Ich würde das Pendeln für solch ein Praktikum in Zukunft nochmal in Kauf nehmen, wenn die finanzielle Lage es nicht anders zulässt. Täglich pendeln so viele Menschen, da sollte man sich für drei Monate damit abfinden können, dazugehören zu müssen. Gerade die Strecke zwischen Münster und Enschede ist sehr Pendler-freundlich, weshalb es sich die meiste Zeit gut reisen lässt. Jedem muss allerdings bewusst sein, dass man so auch andere Erfahrungen auslässt, beispielsweise das Wohnen in Holland, wodurch ich die Kultur noch deutlich besser hätte kennen lernen können.

Wenn ihr Fragen zu meinen Erfahrungen habt oder etwas dringendes loswerden wollt zu dem, was ich hier geschrieben habe, könnt ihr diesen Artikel gerne kommentieren 🙂

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