|
Münster (upm/ch).
Flaggen verschiedener Länder am Kernforschungszentrum CERN<address>© Brice, Maximilien: CERN</address>
Flaggen am Kernforschungszentrum CERN: Dort forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt.
© Brice, Maximilien: CERN

Persönliche Begegnung gegen Angst und Hass

Ein Gastbeitrag von Christian Klein-Bösing

Prof. Dr. Christian Klein-Bösing ist Kernphysiker an der Universität Münster.<address>© Uni MS - Karol Kovařík</address>
Prof. Dr. Christian Klein-Bösing ist Kernphysiker an der Universität Münster.
© Uni MS - Karol Kovařík
Vor einigen Wochen bin ich in die USA geflogen, um an einer Teilchenphysik-Tagung teilzunehmen. Ich habe ein Gedankenspiel gemacht: Was würde passieren, wenn ich eine Regenbogenflagge im Gepäck hätte? Am Ende war die Einreise zwar unkompliziert, aber ich habe mich unwohl gefühlt. Bei der Tagung habe ich von den politischen Umständen kaum etwas mitbekommen. Aber die Pride-Flagge in der Eingangshalle der berühmten Wilson Hall des Fermilab, einem Forschungszentrum für Teilchenphysik westlich von Chicago, war gemäß der offiziellen Order abgenommen worden. Stattdessen stand eine im Besucherzentrum. Die Hausverantwortlichen hatten sie dort aufgestellt, um die Vorgabe zu umschiffen.

Ich mache mir Sorgen um die Wissenschaftskultur, denn Wissenschaft ist nicht von Politik entkoppelt. Ich denke momentan häufig an meinen „Doktorgroßvater“ Wolfgang Gentner, den Doktorvater meines Doktorvaters Rainer Santo. Wolfgang Gentner sollte ab 1940 im Auftrag der Nazis während der Besetzung von Paris die Forschung zur Kernspaltung am Collège de France überwachen, im Labor von Frédéric und Irène Joliot-Curie, Schwiegersohn und Tochter von Marie Curie. Mein Doktorgroßvater spielte ein Doppelspiel: Er kooperierte scheinbar mit den Nazis, unterstützte aber in Wahrheit seinen Kollegen und langjährigen Freund Frédéric Joliot-Curie. Der Franzose war verdeckt in der Résistance aktiv, sein Labor wurde zu einem Zentrum des Widerstands.

Eine Diskreditierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie in den 1920er- und 30er-Jahren, als die „jüdische Physik“ diffamiert wurde und Koryphäen wie Albert Einstein und Emmy Noether Deutschland verlassen mussten, kann es wieder geben. Allerdings kann Wissenschaft auch Kommunikationskanäle offenhalten, die politisch verschlossen sind. Am Kernforschungszentrum CERN forschten während des Kalten Kriegs Wissenschaftler aus aller Welt, auch aus der Sowjetunion. Heute ist es immer noch so: Israelis und Palästinenser forschen am CERN gemeinsam. Die persönliche Begegnung relativiert Angst und Hass.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 16. Juli 2025.

 

Buchtipp:

Astrid Viciano beschreibt die Geschichte um Wolfgang Gentner und Frédéric Joliot-Curie in „Die Formel des Widerstands – Wie Kernphysiker mithalfen, die Atombombe der Nazis zu verhindern“ (Verlag: Galiani-Berlin).

 

Links zu dieser Meldung