
„Mit dem Pudel gescherzt“: Thomas Manns Hunde
Bei der großen Menge an Forschung zu Thomas Mann sollte man meinen, längst sei jedes Thema abgegrast. Die Mutter und Schwiegermutter, ja selbst die Mutter der Schwiegermutter wurden biographisch bedacht, jedes Kind des Dichters ist mehrfach porträtiert. Es gibt Darstellungen über Thomas Mann und die Politik, die Musik, die Wissenschaften, die Natur, die Religion, die Sowjetunion, das Kino, das Judentum, das Exil, die Medizin, das Theater, über Thomas Mann und Nietzsche, Schopenhauer, Wagner, Storm, Tolstoi, Bang … und zu jedem einzelnen seiner Werke. Und doch scheint eine Spezies bislang weitgehend übersehen worden zu sein: seine Hunde.
Trieb und Metapher
Schon früh tauchen sie auf – die berühmten „Hunde im Souterrain“, Sinnbild innerer Kämpfe und verborgener Triebe. Bereits im Februar 1896 schreibt Thomas Mann an seinen Freund und homosexuellen ,Leidensgenossen‘ Otto Grautoff über jene dunklen Kräfte, die an die Kette gelegt werden müssen – eine Aufgabe, die ihn sein Leben lang beschäftigen wird: „Das Ausrotten eines schlechten Triebes geschieht allerdings nicht plötzlich mit einem moralischen Aufraffen; das bedeutet garnichts, und man ist bei einem unvermeidlichen Rückfall nur desto verzweifelter. Es ist ein langsames, behutsames Schwächen und Abdorrenlassen des Triebes nötig, wobei alle möglichen intellectuellen Kunstgriffe mithelfen, die einem der Selbsterhaltungsinstinkt suggeriert. Schließlich ist man viel zu sehr homme de lettres und Psycholog, als daß man nicht nebenbei seine überlegene Freude an solcher Selbstbehandlung haben sollte. Irgendwelches Verzweifeln wäre in Deinem Alter unsinnig. Du hast Zeit, und der Trieb zur Ruhe und Selbstzufriedenheit wird die Hunde im Souterrain schon an die Kette bringen. –“ Mann bezieht sich hier auf einen Ausspruch Nietzsches aus dessen Schrift Zur Genealogie der Moral von 1887, wonach nach Ansicht der Philosophen zur Askese vor allem gute Höhenluft gehöre, „bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt; Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune“. Es ist also der Hund in Thomas Mann, der mal friedlich in seiner Hütte liegt und mal winselnd und jaulend an seiner Kette reißt und losgelassen werden will.
Hundecharaktere im Kontrast
Nur in seinem literarischen Werk bekommt dieser innere Hund Auslauf. Am prominentesten in der Idylle von Herr und Hund, die Thomas Mann 1918 unmittelbar nachdem er die Betrachtungen eines Unpolitischen abgeschlossen hat, zu schreiben beginnt. Herr und Hund erschien 1919 als Vorzugs- und Luxusausgabe mit Illustrationen von Emil Preetorius im Auftrag des Schutzverbands deutscher Schriftsteller als ein Herzensprojekt mit wohltätigem Zweck: Der Ertrag sollte dazu dienen, bedürftige Schriftsteller zu unterstützen. Der Luxusausgabe ist ein „Vorsatz“ Thomas Manns vorgeschaltet, in dem er – nicht ohne Ironie – erklärt, er wolle seinen realen Hund Bauschan beschreiben und verfolge nicht die Absicht, „Probleme der Sittlichkeit“ zu diskutieren, „bedeutende Charaktere“ zu zergliedern oder „die gesellschaftliche Frage ihrer Lösung näher“ zu führen. Das Idyll von Herr und Hund sei „ein Ausdruck einer durch Leiden und Erschütterung erzeugten weichen Stimmung, des Bedürfnisses nach Liebe, Zärtlichkeit, Güte, auch nach Ruhe und Sinnigkeit“, so notiert Mann am 27. Oktober 1918 im Tagebuch. Die Erzählung wurde ein Publikumserfolg und Bauschan einer der legendärsten Dichterhunde. Sein Wohl und Wehe erregten so viel Anteilnahme, dass sogar Kondolenzbekundungen eintrafen, als der Hund 1920 eingeschläfert werden musste: „Sprachen Falckenberg, der zu Bauschans Tod kondolierte, von dem er ,aus den Zeitungen‘ erfahren“, so Thomas Mann am 24. Februar 1920 im Tagebuch. Sogar der Verhaltensforscher Konrad Lorenz bestätigt dem Erzähler die hervorragende Analyse der Hundeseele. Zugleich lässt die Erzählung eine psychoanalytische Deutung der Protagonisten zu: der „Herr“ repräsentiert dabei das von den Konventionen eines sozialen Über-Ich gelenkte Ich, der „Hund“ hingegen das Es als Triebnatur.
Aber es geht Thomas Mann auch buchstäblich um den Hund als Hund: darum, Bauschan als bodenständiges, lebenstaugliches Individuum von eher schlichtem Charakter darzustellen. Das tut er vor allem in Abgrenzung zu Bauschans literarischem Vorgänger Perceval in dem Roman Königliche Hoheit (1909), für den der schottische Schäferhund Motz, der 1905 bis 1915 bei der Familie Mann lebte, Vorbild war. Percy gehört gleichberechtigt mit den Menschen in die Serie der Außenseiter, die Thomas Mann durch den Roman defilieren lässt. Dem Mischling Bauschan wird der adlige, überzüchtete Collie mit seinen diversen Überspanntheiten kontrastiert. Bauschan steht dabei als der männliche, jagdliebende, sportliche, robuste, wenn auch etwas schlichte, wehleidige Typ dem überfeinerten, hysterischen, edlen, leidenswilligen Percy gegenüber; eine Nähe auch dieser Kontrastierung zu lebensphilosophischen Konzepten und Begriffen Nietzsches ist immer wieder erkennbar.
Aber Bauschan und Perceval sind nicht die ersten literarischen Hunde Thomas Manns. 1897 verfasst er in Rom die Erzählung von Tobias Mindernickel, einem einsamen älteren Herrn, der sich einem verletzten Hund liebevoll zuwendet und ihn gesund pflegt, bis ihn dessen neu erwachter Lebensübermut so in Wut versetzt, dass er zum Messer greift und den Hund tötet. Der Text bezieht sich auf das Mitleidsethos Schopenhauers, das explizit auch das Mitleid mit Tieren vorsieht, und auf Nietzsches Pervertierung dieser Ethik. Die Erzählung exemplifiziert Nietzsches Vorstellung, dass die zu kurz Gekommenen mit allen Mitteln danach trachten, sich am Leben zu rächen. In § 369 der Morgenröthe heißt es unter der Überschrift „Sich über seine Erbärmlichkeit zu heben“: „Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können […], um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit zu heben! – Dazu hat Mancher einen Hund“. Ebendiese Konstellation verarbeitet die Erzählung vom sozialen Außenseiter Tobias Mindernickel.
Bauschan wird nicht der letzte Hund im Werk von Thomas Mann sein. Vor allem mag man sich an Hanegiff erinnern, der im Roman Der Erwählte (1951) laut zu heulen beginnt, als sein Herr den Hunden im Souterrain nachgibt und mit seiner Schwester schlafen will, sodass der Herr ihn stillstellen muss, bevor er sich in Ruhe seinem sündigen Tun widmen kann. Das Urteil des Erzählers über den Hundemord könnte nicht vernichtender sein: „Nach meiner Meinung war es das Schlimmste, was diese Nacht geschah, und eher noch verzeih ich das andere, so unstatthaft es war.“
Tagebücher einer Hundeliebe
Mit Mouche leben nun drei Hunde im Haus, bis Bill wieder ausziehen muss, weil er bissig ist und Mouche wegen Altersschwäche eingeschläfert wird. Toby bleibt: „Beim Ausgang abends Verdruß und Sorge um den ungebärdigen Toby, der, im unrechten Augenblick bestraft, vor ein Auto geriet, dann verschwand und sich erst abends, schon für tot gehalten, aus einer verschreckten Entfernung wieder einfand“. „Nach dem Rasieren mit K[atia] in den Wald gefahren, erheitert durch Toby, der auf den Führersitz sprang und hupte, worüber er vor Schrecken und Aufregung zitterte.“ Was mit Toby passiert, als die Manns in die USA auswandern, ist bisher nicht ermittelt, aber auch in Princeton zieht zunächst der kleine Jimmy ein und schließlich der erste Pudel: Nico. „Neue Liebesfreuden und Lebensanhänglichkeiten sind der zarte Pudel und der in Aussicht stehende erstklassige Musik-Apparat.“ Es gibt aber natürlich auch wieder Sorgen: „Zerwürfnis mit dem Pudel wegen seiner Unfolgsamkeit nach Auffindung abstoßender Dinge. Beschluß, mich nicht mehr darum zu kümmern.“ Nach elfjährigem Zusammenleben – und mehreren Abwesenheiten in Liebesdingen („Der Pudel aushäusig und verkommen durch die Nähe einer läufigen Hündin“) – verschwindet Nico 1950 spurlos, nachdem er sich einmal mehr sexhungrig in der Nachbarschaft herumgetrieben hatte.
Der letzte Hund im Hause Thomas Mann ist Boris, der 1953 in Kilchberg einzieht. Von 1897 bis 1955 wird der Schriftsteller also nahezu ununterbrochen von einem Vierbeiner begleitet. Liest man die erhaltenen Tagebücher, so stellt man fest, dass meistens der Hund das Wesen im Umkreis Thomas Manns ist, dem er die meiste Liebe, das meiste Verständnis und oft auch die meiste Geduld entgegenbringt. Er gibt seine Hundeliebe übrigens an seine Kinder weiter: Golo und Michael haben gleichfalls Hunde, und Elisabeth bringt ihren Hunden sogar auf einem Spezialinstrument das Klavierspielen bei.
Vom Heuhaufen in Palestrina bis zum Schäferhund Boris in Kilchberg: Fast sechzig Jahre lang waren Hunde Thomas Manns treueste Gefährten – literarisch, biografisch, metaphorisch. Höchste Zeit, sie als eigenständige Figuren im Kosmos dieses Autors ernst zu nehmen.
Autorin Dr. Maren Ermisch ist Literaturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Editionsprojekt zu Thomas Manns amerikanischer Essayistik bei Prof. Dr. Kai Sina.
Zum 150. Geburtstag von Thomas Mann gibt es eine Themenseite in der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 7. Mai 2025.
Links zu dieser Meldung
- Dr. Maren Ermisch an der Universität Münster
- Die Mai-Ausgabe der Unizeitung wissen|leben
- Gastbeitrag von Prof. Dr. Andreas Blödorn: Ein Werk mit besonderem „Sound“
- Weiterer Beitrag zu Thomas Mann: Interview mit Literaturdidaktiker Sebastian Bernhardt
- Weiterer Beitrag: Thomas Manns als politischer Aktivist