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Münster (upm).
Das Bild zeigt den Schriftsteller Thomas Mann im Anzug an einem Schreibtisch sitzend.<address>© ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atlantic-Photo / TMA_0161</address>
Thomas Mann, hier 1930 an seinem Münchner Schreibtisch, gilt als deutscher Großschriftsteller. Er ist Literaturnobelpreisträger, hat viele Fans und einige Kritiker und wird, auch in Münster, seit Jahrzehnten umfassend beforscht.
© ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Atlantic-Photo / TMA_0161

Ein Werk mit besonderem „Sound“

Das Interesse am Lübecker „Großschriftsteller“ ist nicht nur in Forschung und Lehre ungebrochen

„Was ist das“: So beginnt Thomas Manns erster Roman Buddenbrooks mit dem Repetieren des Lutherischen Katechismus. Über vier Generationen und Hunderte von Seiten hinweg wird in der Folge das Panorama des „Verfalls einer Familie“, wie der Roman untertitelt ist, episch entfaltet, kommt nach dem Aufstieg der Familie – mit unterschwelligen Anspielungen auf Edgar Allan Poes Fall of the House of Usher – der unweigerliche Fall des ‚Hauses Buddenbrook‘, folgt auf die Anfangsfrage die drängende nach dem, was am Ende steht („Was war der Tod?“) und schließlich die Resignation angesichts von Zweifeln an einem möglichen Weiterleben („Wenn es so wäre…“). Wir begegnen zwischen zunehmend ernsteren Charakteren aber auch skurrilen und unheimlichen Gestalten wie etwa dem chronisch kranken Hallodri und Frauenhelden Christian Buddenbrook, dessen Leiden angeblich durch „zu kurze Nerven“ bedingt sind, und dem Arbeiter Grobleben, der bei der Taufe des jüngsten Familiensprosses Hanno unheilverkündend als Totesbote auftritt: „tau Moder müssen wi alle warn“.

Die Riege der vielen Sonderlings- und Außenseiterfiguren, die vor allem im Frühwerk Thomas Manns um und nach der Jahrhundertwende auftauchen: Sie sind immer auch traurig-komische Helden, Geschädigte eines Lebens, an dessen ungehindert-gewöhnlichem Genuss sie nicht recht teilhaben, dessen Glück beim allgemeinen Tanzvergnügen sie wie Tonio Kröger nur mit melancholischem Blick vom Rande aus betrachten können. In einer noch dem Zeitalter der decadence zuzurechnenden Volte aber geht in den Buddenbrooks der Verfall einher mit einer geistig-künstlerischen Verfeinerung, die die dem Untergang geweihten Familienmitglieder zu den ‚Ersatzdrogen‘ Religion (Elisabeth), Philosophie (Thomas) und Musik (Hanno) greifen lässt, um die Schrecken des heraufziehenden Todes auszuhalten. Mit einigem Recht kann dies als Ausgangspunkt des Mann’schen Erzählens gelten, wie es sich auch im Zauberberg formuliert findet: „Der Mensch soll um der Güte und der Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“

Im Laufe der Entwicklung von Manns Werk wandeln sich mit dieser Einsicht auch die Charaktere und ihr Blick auf die Welt, verstehen sich die Gezeichneten schließlich als Ausgezeichnete, die Zugang zu einer privilegierten Weltsicht haben – sei es der biblische Joseph, der Hochstapler Felix Krull oder Gregorius in Der Erwählte. Mit ihnen kehren zugleich neue Themen um Chaos und Neubeginn in Manns späteres Werk ein, die direkt oder indirekt auf die politisch-historischen Zeitläufte des 20. Jahrhunderts um Vertreibung und Exil, Shoah und Zweiten Weltkrieg referieren: die deutsche Schuld und die Suche nach Hoffnung, Gnade und Erlösung.

Als ‚Großschriftsteller‘, der beanspruchte, deutsche Kultur in seiner Zeit – vom deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik über sein mit der NS-Herrschaft beginnendes Exil bis zur Nachkriegszeit – zu repräsentieren, hat Thomas Mann gleichermaßen Verehrung wie Verachtung erfahren (Alfred Döblin etwa rief Thomas Mann nach, die „Bügelfalte“ zum „Kunstprinzip“ erhoben zu haben). Der „Zauberer“, wie seine Familie den Erzähler von Romanen wie Buddenbrooks, Der Zauberberg, der Tetralogie Joseph und seine Brüder oder des Deutschlandromans Doktor Faustus nannte, reflektierte in seinen Geschichten nicht nur die bürgerliche Kultur der Moderne in Umbruchs- und Krisenzeiten vor und nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, sondern verarbeitete zugleich immer wieder autobiografische Erfahrungen, die mancherlei Anlass gaben, den Blick von den Texten zurück auf den Autor selbst zu lenken. Befeuert wurde dies erst recht durch die mit der Veröffentlichung der Tagebücher seit den späten 1970er Jahren in den Vordergrund rückenden homoerotischen Neigungen Manns, dessen Spuren auch im literarischen Werk längst sichtbar waren (beispielsweise in den Novellen Tonio Kröger und Der Tod in Venedig).

Die Forschung zu Thomas Mann hat sich von diesen biografisch motivierten Lektüren in den vergangenen Jahrzehnten frei gemacht, um neben den seit jeher im Mittelpunkt stehenden philosophisch-ästhetischen Fragen (um Manns ‚Dreigestirn‘ Schopenhauer, Nietzsche und Richard Wagner) den poetologischen Implikationen der Texte selbst, aber auch ihren vielfältigen Kontexten nachzugehen. Kulturwissenschaftliche Lektüren ergründen Manns Textwelten aus neueren Perspektiven. Immer aber steht Manns ironisch fabulierendes, von manchen als umständlich empfundenes Erzählen im Fokus, das sich häufig selbstreflexiv gewendet findet, wenn der „Geist der Erzählung“ (im Roman Der Erwählte) beschworen und sich der Erzähler als „raunender Beschwörer des Imperfekts“ (Zauberberg) artikuliert, dessen Kunst auf ‚Zweideutigkeit‘, auf die Ambiguisierung des Erzählten im Erzählvorgang, angelegt ist. Manns Hinweis, seine Werke erschlössen sich erst beim zweimaligen, wiederholten Lesen, deutet auf die vielfältigen Formen der semantischen Überformung seiner Erzählwelten zum Beispiel durch die ‚Leitmotivtechnik‘ sowie durch Formen der Mythisierung, der Allegorisierung und nicht zuletzt der erzählerischen Ironisierung. Manns komplexes und über große Bögen gespanntes Erzählen sowie seine intertextuell dicht vernetzten Erzählwerke mit ihren vielfältigen Entwürfen von scheiterndem, aber auch gelingendem Leben machen Manns Werk zu einem idealen Gegenstand für auch methodische Diskussionen der Erzähltextanalyse, die nicht selten gegenläufige Interpretationen miteinander ins Gespräch bringen.

Das Porträtfoto zeigt Prof. Dr. Andreas Blödorn.<address>© Anna Overmeyer</address>
Andreas Blödorn ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Medien am Germanistischen Institut. Von 2012 bis 2024 war er Vizepräsident der „Deutsche Thomas Mann-Gesellschaft“. Er ist Mitherausgeber der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns im S. Fischer Verlag sowie Mitherausgeber des „Thomas Mann-Handbuchs“, das in diesem Jahr in 2. Auflage erscheint. Im Sommersemester 2025 bietet er eine Vorlesung zu Thomas Manns Poetik an sowie ein Lektüreseminar zum „Zauberberg“-Roman.
© Anna Overmeyer
Dieser besondere Stil und ‚Sound‘ von Thomas Mann erschließt sich Studierenden heute nicht immer leicht. Doch bietet gerade Manns Werk auch für die heutige Lehre zahlreiche Möglichkeiten, einen Einstieg in dessen komplexe Erzählwelten zu finden: etwa über die kurzen Erzählungen wie Der kleine Herr Friedemann, Tristan oder Mario und der Zauberer – oder über eine der vielen medialen Adaptionen der Werke Manns in Film, Hörspiel oder neuerdings Graphic Novel. Von hier aus lässt sich der lange Atem, den die Leser der umfangreichen Mann-Romane brauchen, ebenso einüben wie das Vergnügen an der Erkenntnis eines ‚doppelten Bodens‘ der Geschichten, die sich mit fortschreitender Lektüre und etwa beim Nachvollzug rückbezüglicher Motivverkettungen, Erzählverfahren, Anspielungsräume, Intertexte und Kontextbezüge einstellt. Nicht zuletzt kann man auch ‚gegen den Strich‘ lesen, um unterschwellig mitschwingende Sinnschichten freizulegen und damit am Ende auch besser zu verstehen, wie diese Texte ‚gemacht‘ sind. Thomas Mann sprach mit Blick auf die Machart seiner Texte von „Montage“.

Den heutigen Studierenden stehen für solche und andere Lektüren zahlreiche Hilfsmittel der Mann-Forschung wie Autoren- und Werkhandbücher, den Thomas-Mann-Studien und dem Thomas Mann Jahrbuch zur Verfügung, an deren Entstehen das Germanistische Institut vielfach beteiligt ist. Nicht zuletzt werden hier die Bände der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA) mit herausgegeben und Einzelbände ediert.

Das Interesse am Autor und seinem Werk ist nicht nur in Lehre und Forschung ungebrochen. Wenn sich am 6. Juni 2025 Thomas Manns Geburtstag zum 150. Mal jährt, ehren gleich mehrere Tagungen den Lübecker Schriftsteller, dessen 70. Todestag dieses Jahr zugleich markiert: Der Schriftsteller starb am 12. August 1955 in Zürich. Damit endet nun auch der urheberrechtliche Schutz seines Werkes.

Autor: Prof. Dr. Andreas Blödorn

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 7. Mai 2025.

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