Ein offenes Ohr für "echte" Sätze
Reagenzgläser, Mikroskope und Dunstabzugshauben sucht man hier vergeblich. Dafür gibt es eine Schatztruhe, die sich immer weiter füllt, sobald jemand etwas daraus entnimmt. Im Forschungslabor Gesprochene Sprache (FoGS) am Germanistischen Institut gilt das Solidaritätsprinzip. „Alle Studierenden des Germanistischen Instituts dürfen unsere Daten nutzen“, unterstreicht Prof. Dr. Susanne Günthner, die das Labor eingerichtet hat, als sie vor zwanzig Jahren nach Münster kam. Einzige Bedingung: „Zuvor muss man selbst einen Beitrag einspeisen.“ Das können Mitschnitte aus einem Gespräch am Kaffeetisch, aus Smalltalk in Geschäften oder aus Diskussionen mit den WG-Mitbewohnern sein. Wichtig ist, dass es sich um eine authentische Situation handelt. Persönliche Angaben werden „überpiepst“, sodass kein Rückschluss darauf möglich ist, wer spricht.
Die Sprecherinnen und Sprecher müssen zustimmen, dass ihre Aufnahme für wissenschaftliche Zwecke verwendet wird. Die Audiodatei wird erfasst und das Gesagte verschriftlicht – mitunter auch Parameter wie Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit und der Rhythmus. Dabei verknüpfen die Nutzer abschnittweise die Tonspur mit der Textspur, mithilfe der Software EXMARaLDA. „Wir bringen anderen Studierenden bei, wie man transkribiert“, erläutert Annik Grzeszkowiak. In dem nur etwa 15 Quadratmeter kleinen FoGS im ersten Stock des Vom-Stein-Hauses ist die Masterstudentin in ihrem Element. Annik Grzeszkowiak deutet auf ihren Bildschirm, auf dem der sogenannte „Partitur-Editor“ zu sehen ist. „Eine transkribierte Minute bedeutet ungefähr eine Stunde Arbeit“, rechnet sie vor. „Trotzdem ist der Aufwand für den Einzelnen überschaubar, denn am Ende setzen wir aus vielen kleinen Beiträgen eine umfangreiche, maschinenlesbare Datei zusammen.“
Sieben Lehrveranstaltungen bietet das Team um Susanne Günthner in diesem Semester an. Auffällig sei die hohe Qualität der studentischen Arbeiten. „In jeder Hausarbeit gibt es etwas zu entdecken“, hat Nathalie Bauer beobachtet, „und zwar bereits in frühen Semestern.“ Viele Abschlussarbeiten beschäftigen sich mit den Daten. Im FoGS erlernen die Studierenden das nötige Handwerk dafür. „Gleichzeitig entwickeln sie ein Bewusstsein für empirisches Arbeiten“, erläutert die wissenschaftliche Mitarbeiterin. Über die Lehrveranstaltung hinaus begleitet das Team die Transkriptionsausbildung der Studierenden in täglichen Sprechstunden.
Die Datenbank umfasst in Münster mittlerweile 1.000 Gespräche. Das entspricht rund 155 Stunden gesprochene Sprache. Weitere 220 Gespräche sind gerade in Arbeit („unsere Datenoffensive“). Zusätzliche Quellen sind SMS-, WhatsApp- und chinesische WeChat-Interaktionen sowie Videos. Die Beiträge dienen der Erforschung sprachlicher Phänomene und Eigenarten, die im Schriftlichen ungewöhnlich sind. Zum Beispiel das kleine Wort „ne“, das viele Menschen an ihre Sätze anhängen. Wann kommt es vor und welche Funktion erfüllt es, wenn es schon keine inhaltliche Bedeutung trägt? In welchen Regionen ist es häufiger? Dieser und anderen Fragen gehen verschiedene Forschungsprojekte nach, weit über Münster hinaus. „Wir können hier wirklich aus dem Vollen schöpfen“, unterstreicht Susanne Günthner. Das wissen die großen Drittmittelgeber zu schätzen: Projekte mit Daten aus dem FoGS sind bereits von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Bundesforschungsministerium (BMBF) sowie vom Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD) gefördert worden. Im Moment freut sich die Professorin besonders darüber, dass die aufgezeichneten Gespräche auch im Deutschunterricht in vielen Ländern zu hören sind. „Damit können sich die Kollegen von den Lehrbuchsätzen lösen, und die Lernenden profitieren von den authentischen Situationen.“ Auch in der vom DAAD geförderten Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) zwischen der WWU und der chinesischen Xi'an International Studies University kommen die Daten zum Einsatz.
Mehrere germanistische Abschlussarbeiten widmen sich derzeit der Arzt-Patienten-Kommunikation in onkologischen Aufklärungsgesprächen sowie in der Palliativkommunikation. „Dafür gibt es zwar kein Patentrezept“, berichtet Nathalie Bauer. Bei einem Workshop der münsterschen Labormitarbeiterinnen am Klinikum Karlsruhe seien die Medizinstudierenden sehr angetan gewesen, auf diese Weise praktische Erfahrungen in der „sprechenden Medizin“ zu erwerben.
Dass ein Großteil der Lehre in den vergangenen drei Semestern pandemiebedingt ins Netz verlagert werden musste, hat das FoGS nicht so stark getroffen wie beispielsweise die naturwissenschaftlichen Labore, in denen der Umgang mit Chemikalien geübt wird oder in denen Kulturen gezüchtet und Versuchsaufbauten kontrolliert werden. Ohnehin ist das FoGS kein Labor wie jedes andere. „Im Grunde sind wir aber näher am ursprünglichen Anliegen von Laboren“, sagt Doktorand Pepe Droste. „Denn anders als zum Beispiel bei der Arbeit in Reinräumen sperren wir äußere Einflüsse nicht aus.“ Im Gegenteil – das Team suche gezielt nach mündlichen Äußerungen im normalen Alltag der Sprecher.
„Künstlich erzeugte Daten interessieren uns nicht“, unterstreicht der wissenschaftliche Mitarbeiter. „Ursprünglich hat der Begriff des Labors lediglich gemeint, dass man alles an einem Ort hat, was für die Arbeit nötig ist.“ Im FoGS sind das vier Rechner mit je zwei Bildschirmen und einer Andockstation für Kopfhörerkabel. Die Daten liegen auf einem Server.
Über den Bildschirm von Annik Grzeszkowiak flimmert gerade eine Audiospur mit auffälligen Ausschlägen in Lautstärke und Intonation. „Hier haben zwei Freunde ihre Unterhaltung mitgeschnitten, während sie ein Regal aufgebaut haben“, sagt die Sprachwissenschaftlerin. „Das Gespräch war wohl sehr lebhaft.“
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 15. Dezember 2021.
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