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Münster (upm/anb).
Das Bild zeigt eine Gruppe von rund 15 Personen. In der Mitte stehen die Schülerinnen Angelina und Esila, im Hintergrund steht auf einer Wand „Wir sind bunt“.© Uni MS - Alice Büsch
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Liebesgrüße aus Marxloh

Duisburger Schülerinnen bieten in Kooperation mit der Universität Münster Stadtteilführungen durch ihr Viertel an

Berlin-Neukölln, die Dortmunder Nordstadt, das Frankfurter Bahnhofsviertel – diese Stadtteile rufen meist negative Bilder hervor. Doch viele dürften sie nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus Medienberichten kennen. Das trifft auch auf Duisburg-Marxloh zu. Eine Google-News-Suche zum Stadtteil liefert Begriffe wie „Problemviertel“, „illegales Autorennen“, „Diebstahl“ oder „Mülldetektiv“. Und doch sagt die 16-jährige Angelina ins Mikrofon meiner Kollegin: „Es ist ein sehr süßer Ort.“ Am Morgen hätte ich nicht erwartet, diesen Satz über Marxloh zu hören. Doch nach einem langen Tag verstehe ich, was die Schülerin meint. Sie und ihre beste Freundin Esila sitzen auf den Stufen der DITIB-Merkez-Moschee, dessen Minarett hinter ihnen einen Schatten wirft. Während Angelina Marxloh „süß“ nennt, geht Esila einen Schritt weiter: „Es ist schön hier, ihr könnt kommen.“

Schön ist es an diesem Montagnachmittag tatsächlich. Die Sonne scheint, der Wind hat die grauen Wolken des Vormittags vertrieben. Esilas Einladung, Marxloh selbst zu erleben, bildet den passenden Abschluss einer Stadtteilführung, die die beiden Freundinnen mit vier weiteren Mitschülerinnen organisiert haben. Nach geschätzt acht Kilometern und zwei Stunden endet die Tour um 16 Uhr vor der Moschee. Der Platz ist ruhig, nur ein paar Autos sind zu hören.

Wenige Minuten zuvor, an der belebten Weseler Straße, ist das anders. Die Schülerinnen führen die Gruppe zur Konditorei „Elif’s Tortenwelt“. Doch der Lärm einer Baustelle gegenüber macht es unmöglich, die Kreationen im Schaufenster zu bewundern. Also gehen wir ein paar Meter weiter und halten vor einem der vielzähligen Baklava-Geschäfte. Die Besitzerin schaut neugierig, warum plötzlich über 20 Menschen vor ihrem Laden stehen, während die Schülerin Julia mithilfe einer Moderationskarte die Geschichte des orientalischen Gebäcks erklärt. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer der alternativen Stadtteilführung „Trip to Marxloh“ nutzen anschließend die Gunst, um die beliebte Süßspeise im Geschäft zu kaufen.

Doch Baklava ist nicht der Grund, warum sich die Gruppe eineinhalb Stunden zuvor an der Herbert-Grillo-Gesamtschule trifft. Sechs Schülerinnen führen seit Juni regelmäßig durch ihr Viertel. Die Idee dazu kam der Geographiedidaktik der Uni Münster. „Wir wollen zeigen, wie Bildung die Wahrnehmung eines Stadtteils verändern kann“, erklärt Tabea Thomsen, die das Projekt im Rahmen ihrer Promotion an der Uni Münster betreut. In einer Schul-AG erarbeitet sie gemeinsam mit Shabnam Shariatpanahi von der Duisburger „Werkkiste“ und den Mädchen deren Perspektiven auf Marxloh. „Ein Ort ist mehr als Zahlen und Fakten. Jeder nimmt ihn anders wahr. Es geht um Emotionen und Zugehörigkeit. Die Perspektive meiner AG-Mädchen ist dabei besonders hervorzuheben, weil sie weiblich sind, eine Migrationsgeschichte haben und in dem strukturschwachen Stadtteil Duisburg Marxloh aufgewachsen sind. Sie stellen eine dreifachmarginalisierte Gruppe dar, der unbedingt eine Stimme in der Öffentlichkeit verliehen werden sollte.“

Die Führung beginnt mit einer anonymen Umfrage: Per Smartphone geben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer drei Begriffe ein, die sie mit Marxloh verbinden. Dann gehen wir über das Schulgelände. Angelina erzählt, dass es in der Mensa nur vegetarisches Essen gibt, „damit sich jeder wohlfühlt“. Auf dem Schulhof sehen wir ein Wandbild gegen Rassismus, daneben einen Mast mit Sicherheitskameras. Auf Nachfrage erklärt Angelina, dass sie sich dadurch nicht beobachtet, sondern sicherer fühlt. Von der Schule geht es weiter zum Schwelgernstadion. Ein Anblick zum Staunen: Der Eingang des 100 Jahre alten Stadions, ein Spitzbogentor, eröffnet den Blick auf eine Rasenfläche, umgeben von einer Aschebahn, auf Bäume, eine Stromleitung und ein rostbraunes Stahlwerk von ThyssenKrupp, das über dem Areal thront. Eine beeindruckende Mischung aus Natur, Industrie und Stadtgeschichte. Die Schülerinnen erzählen von der Vergangenheit des Ortes, während wir die Kulisse auf uns wirken lassen.

Abseits der Gruppe stehen zwei der sechs Schülerinnen. Shabnam Shariatpanahi, Sozialarbeiterin der „Werkkiste“, bemerkt es sofort und geht zu ihnen. Im freundlichen Gespräch hakt sie eine der Schülerinnen unter und bringt beide lächelnd zurück in die Gruppe. Danach geht es weiter durch kleinere Straßen, in denen viele Kinder spielen – ein ungewohnter Anblick für jemanden aus Münster, wo Kinder nur selten unbeaufsichtigt draußen sind. Wir passieren leerstehende, verfallene Gebäude. An einem verrammelten Haus mit verwitterter Fassade hängen Banner: „Immer mehr Leerstand, immer mehr Obdachlose ... Danke SPD.“ Der Anblick löst Diskussionen aus. Wut und Enttäuschung über die Stadtpolitik werden spürbar, etwa wegen der Stimmungsmache gegen Menschen aus Rumänien und Bulgarien.

Heute interessieren sich ein Quartiersentwickler, Bundesfreiwilligendienstleistende, eine Masterstudentin und Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen für die Perspektive der Mädchen. Unter ihnen ist auch der Oberbürgermeisterkandidat der Partei. Die Kommunalwahlen stehen bevor, überall hängen Plakate – meist mit Namen, die auf einen Migrationshintergrund hinweisen. 2023 hatten über 60 Prozent der Marxloher keine deutsche Staatsangehörigkeit, der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit Migrationshintergrund dürfte noch höher liegen.

Auf der Weseler Straße, der Hauptschlagader des rund 22.000 Einwohner zählenden Viertels, sprechen wir neben Baklava über die Brautmodengeschäfte, für die Marxloh bekannt ist. Wieder ist es Angelina, die eine persönliche Note einbringt: „Ich werde hier mein Abschlusskleid kaufen.“ Insgesamt ist es weniger laut und hektisch als erwartet. Vor den Geschäften dominieren Männer das Bild. Auf dem Weg zum „Cafe Femm“, einem Lieblingsort der Schülerinnen, spreche ich mit zwei Grünen-Politikerinnen. Sie loben den Mut der Mädchen und hoffen, dass das Viertel durch das Projekt mehr Anerkennung bekommt.

An der Hauptkreuzung „Pollmann-Eck“ biegen wir ab und erreichen eine Grundschule. Die Schülerinnen erklären, dass es dort keine festen Klassenstufen gibt, damit alle voneinander lernen können. Amelie Marquardt, Masterstudentin aus Münster, schreibt während der Führung fleißig mit. Der Rundgang dient ihr als Recherche für eine Hausarbeit, in der sie sich mit den – internen und externen – Perspektiven auf Orte beschäftigt.

Schließlich geht es, vorbei an schmucken Altbauten und einer überwucherten Brachfläche, zur Moschee. Wir betreten das imposante Gebäude: Frauen besichtigen die Empore, Männer den Gebetsraum mit rotem Teppich, Ornamenten und einem riesigen Kronleuchter. Nach den Eindrücken des Tages tut die Stille gut. Danach sitzen wir in der Sonne und nehmen an einem Quiz teil, mit dem die Schülerinnen das vorher vermittelte Wissen spielerisch abfragen, bevor Esila und Angelina das eingangs beschriebene Interview geben. Letztere erinnert sich strahlend an die erste Führung mit Studierenden aus Münster. Auch damals waren die Meinungen über Marxloh anfangs wie so oft negativ. Aber: „Am Ende hat jeder etwas Positives gesagt. Wir waren so stolz und dachten: ‚Wow, wir haben es geschafft!‘“

Autor: André Bednarz
 

Von der Idee zum Projekt

Ein Beitrag von Tabea Thomsen

Die Idee für das Projekt „Inside Marxloh“ und die Stadtteilführung „Trip to Marxloh“ entstand am Institut für Didaktik der Geographie. Im Rahmen meiner Promotion führe ich es in Kooperation mit der Herbert-Grillo-Gesamtschule und der Duisburger „Werkkiste“, einem lokal verankerten sozialen Träger, durch. Eine zentrale Frage lautet: Wie kann ein Ort dazu genutzt werden, um Wissen und Kompetenzen zu vermitteln? Wichtig sind dabei die sogenannten Selbstwirksamkeitserfahrungen, also wie sehr die Mädchen in sich und ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen – insbesondere mit Blick auf die gesellschaftliche Teilhabe.

Zu Beginn des vergangenen Schuljahrs haben wir die erste AG mit Acht- und Neuntklässlerinnen ins Leben gerufen und im Frühjahr mit den Führungen begonnen – zuerst im Schonraum mit Studierenden der Universität Münster, ein paar Wochen später mit der interessierten Öffentlichkeit. Unsere Zielgruppen sind dabei bunt gemischt: Universitäten, Parteien, Verbände, Stadtplanung und -verwaltung, Schulen und Medien. Vor wenigen Wochen, zu Beginn des neuen Schuljahres, startete der zweite AG-Durchgang.

Porträtbild von Tabea Thomsen<address>© Uni MS - Johannes Wulf</address>
Tabea Thomsen
© Uni MS - Johannes Wulf
Die Arbeit vor Ort ist intensiv. Manchmal ist es anstrengend, jede Woche von Münster nach Duisburg zu fahren. Doch sobald ich an meinem „Marxloh-Mittwoch“ mit den Mädchen zusammenkomme, überwiegt die Freude. Bei meiner Arbeit mit ihnen geht es um mehr als Inhalte und Konzeption, der wichtigste Bestandteil ist Beziehungsarbeit. Gerade am Anfang sind die Mädchen mir gegenüber, einer Person die eben nicht aus Marxloh kommt, zurückhaltend. Sie sind es gewohnt, dass Externe vor allem ihre Vorurteile über den einseitig dargestellten und stigmatisierten Stadtteil bestätigt sehen wollen. Sobald ich sie aber vom Gegenteil überzeuge, öffnen sie sich. Mittlerweile sind wir wie große und kleine Schwestern und quatschen neben der thematischen Arbeit auch über Filme, Serien, Musik und natürlich Jungs. Auch die bislang so erfolgreichen Stadtteilführungen machen die Mädchen selbstbewusster, offener und mutiger. Sie sind stolz auf sich und ihren Wohnort – und ich mit ihnen und auf sie. Ich bin sehr gespannt, wo unsere Reise hingeht.

Eindrücke aus Marxloh sowie Interviews mit den Schülerinnen und Tabea Thomsen gibt es auf dem Instagramkanal der Uni Münster in den Highlights (@uni_muenster) und auf dem Kanal des Projekts (@triptomarxloh47).

Diese Artikel stammen aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 1. Oktober 2025.

 

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