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Münster (upm/kn).
Wenn der Lebensweg abrupt endet: Die achtstufige Treppe der Künstlerin Antonia Low ist ein Mahnmal für die NS-Opfer, denen die Universität Münster in den Jahren 1933 bis 1945 Unrecht angetan hat.<address>© WWU - MünsterView</address>
Wenn der Lebensweg abrupt endet: Die achtstufige Treppe der Künstlerin Antonia Low ist ein Mahnmal für die NS-Opfer, denen die Universität Münster in den Jahren 1933 bis 1945 Unrecht angetan hat.
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Schrecken der Vergangenheit

Teil 10: Mahnmal von Antonia Low erinnert an das von der Universität begangene Unrecht in der NS-Zeit

„Es ist mit einem Schlag alles so restlos vernichtet“, schrieb die jüdische Medizinstudentin Luise Charlotte Brandenstein am 12. Februar 1935 an ihre Freundin. Aus der Zeitung hatte sie erfahren, dass sie als Jüdin nicht mehr zum medizinischen Staatsexamen zugelassen ist. Die harte Arbeit, die sie in ihr Studium investiert hatte: vergebens. Ihre beruflichen Zukunftspläne: von einer Sekunde auf die andere zerschlagen. Luise Charlotte Brandenstein ist eine von 81 Studierenden, Dozenten sowie nichtwissenschaftlichen Beschäftigten aller Fakultäten und der Verwaltung, denen die Universität Münster während der NS-Diktatur von 1933 bis 1945 Unrecht angetan hat.

59 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 2004, widmete die WWU den NS-Opfern ein Mahnmal im Südflügel des Schlosses. Es ist eine von der in Berlin lebenden und arbeitenden Künstlerin Antonia Low konstruierte achtstufige Treppe, die als Sackgasse den Blick auf sich zieht. Die Absolventin der Kunstakademie Münster nutzte die geläufige Metapher der Treppe für den Lebensweg, um Opfer und Täter des Nationalsozialismus ins Verhältnis zu setzen. Dem täglich häufig benutzten Aufgang fügte sie einen Treppenstumpf hinzu, der abrupt vor einer weißen Wand endet.

Die Errichtung des Mahnmals geht auf eine Erklärung des Senats der Universität im Juli und November 2000 zurück, in der das zentrale Organ der Hochschule das begangene Unrecht benennt, sich zur Verantwortung der Universität bekennt und die Willkürakte für nichtig erklärt. Mit dem für alle einsehbaren Wortlaut in einem Schaukasten gegenüber dem Kunstwerk erklärt die WWU, dass sie sich durch willkürliche Maßnahmen im Nationalsozialismus mitschuldig gemacht hat. Dazu gehört der Ausschluss von Studierenden, der Entzug von Doktorgraden und die Entlassung von Mitarbeitern. All das habe zu Vertreibung oder Gefährdung von Leib und Leben geführt. Außerdem habe die WWU vom Einsatz von Zwangsarbeitern als Arbeitskräfte profitiert. In der Stellungnahme heißt es weiter: „Die Universität [...] bekennt sich voller Scham zu ihrer Verantwortung.“ Seit der Veröffentlichung der in späteren Jahren mehrfach aktualisierten Erklärung ist die WWU um die Erforschung der Ereignisse im „Dritten Reich“ an der Hochschule bemüht. Neben dem Kunstwerk sind unter anderem in den Jahren 2012 und 2018 Bücher erschienen, die sich mit der WWU im Nationalsozialismus und den Schicksalen der Opfer auseinandersetzen. Auch zahlreiche Projekte und Lehrveranstaltungen beschäftigten sich mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der WWU. Dennoch bleibt – wie in der Senatserklärung zu lesen ist – festzuhalten, dass die Auseinandersetzung mit den Maßnahmen der Universität während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft „mehr als ein halbes Jahrhundert versäumt worden ist“.

Für die 81 NS-Opfer bedeuteten die politischen Handlungen der Universität häufig das Ende ihrer beruflichen Laufbahn, zumindest in Deutschland. Für sie gab es keine Perspektive mehr, der Lebensweg war abgeschnitten. Gründe dafür waren ihre politischen oder religiösen Überzeugungen, ihre sexuelle Orientierung oder dass sie mit Juden verheiratet oder selbst jüdisch waren. Ihnen und ihren Angehörigen wurde die Lebensgrundlage entzogen, ihr bisheriges soziales Umfeld schloss sie aus und sie waren vielfältigen Diskriminierungen, Schikanen und Demütigungen ausgesetzt. Einige von ihnen konnten durch Emigration, Abtauchen in den Untergrund oder den Rückzug aus der Öffentlichkeit zumindest ihr Leben retten, andere wurden von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager oder in Gefangenschaft umgebracht. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es eine reibungslose Wiederaufnahme des Lehrbetriebs. Mitverantwortliche blieben trotz eines Entnazifizierungsverfahrens in Amt und Würden und konnten zumindest nach einer gewissen Zeit ihre Universitätskarrieren fortsetzen.

Die Arbeit der Konzeptkünstlerin Antonia Low veranschaulicht, dass von 1933 bis 1945 humanistische Ideale, die mit einer Universität verbunden sind, außer Kraft gesetzt wurden. Die eine Treppe führt nach oben zu den wichtigsten Repräsentationsräumen der WWU, die andere findet ein auswegloses Ende vor der Wand. Sie ist eine Mahnung, Vielfalt am Arbeitsplatz und im Studium als Antrieb und Auftrag zu verstehen.

Autorin: Kathrin Nolte

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 2. Februar 2023.

Kunst an der WWU

Die WWU verfügt über einen stetig wachsenden Bestand an Kunstwerken. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Werke als Teil des Programms „Kunst am Bau“ und zur Erstausstattung angekauft. Regionale Künstler stehen dabei gleichberechtigt neben Künstlern von nationalem und internationalem Rang. Hinzu kommen zahlreiche Schenkungen aus allen Gattungen. Wir stellen Ihnen in den kommenden Monaten einige Kunstwerke in einer neuen Serie vor.

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