|
Münster (upm/ch)
AG-Mitarbeiter bauen die Vakuumkanne des Bluefors-Kryostaten auseinander.© WWU - Peter Leßmann
Fotos

"Wie eine riesige Thermoskanne"

Teil 1 der Serie über Labore an der WWU: Am kältesten Punkt Münsters forscht ein Team aus der Nanophysik

Der kälteste Ort Münsters ist nicht viel größer als eine Briefmarke. Er kann Temperaturen nahe des absoluten Nullpunkts erreichen, also beinahe minus 273,15 Grad Celsius. Damit ist er etwa drei Grad kälter als das Weltall. Der frostige Punkt liegt in einem besonderen Kühlgerät – einem hochmodernen Kryostaten – in einem Labor von Prof. Dr. Ursula Wurstbauer am Physikalischen Institut der WWU.

In diesem Labor greifen Dr. Iris Niehues und Dr. Nihit Saigal an einem Frühlingsmorgen zum Schraubendreher. Sie stehen hinter einem wuchtigen Lasertisch und nehmen behutsam ein großes weiß lackiertes Rohr auseinander, das an einem Träger aus Aluminium befestigt ist. Die sogenannte Vakuumkanne ist Teil des nagelneuen „LD Dilution Refrigerator System“ der Firma Bluefors. Wie bei einer russischen Matrjoschka ist unter einer Schicht der senkrechten Aluminiumröhre die nächste verborgen. Innen kommen gold- und silberfarbene Stangen, Spulen, Scheiben und Drähte zum Vorschein. Aus diesem metallischen Kern ragt unten ein rund 40 Zentimeter langer Kupferstab heraus. Nahe seiner Spitze liegt – wenn das Gerät geschlossen ist und läuft – der kälteste Punkt Münsters. Im Labor merkt man von der Kälte jedoch nichts. „Das Rohr kann man sich vorstellen wie eine riesige Thermoskanne. Sein Inneres ist durch drei Hüllen und dazwischenliegende Vakuumschichten hervorragend isoliert“, beschreibt Iris Niehues.

Die Arbeitsgruppe von Ursula Wurstbauer erforscht die Eigenschaften von nanoskaligen Materialien und Quantenzuständen – genauer gesagt die Frage, wie sich beispielsweise elektrische oder optische Eigenschaften durch äußere Einflüsse verändern lassen. Die Kälte ist ein Mittel, um die Bewegungen von Molekülen und Atomen zu bremsen. Unkontrollierte Atombewegungen sind Störfaktoren, weil sie die Untersuchungen der Materialien erschweren. Je kälter es ist, desto ruhiger werden im Inneren der Materialien die Teilchen und Quasiteilchen – ein Teilchenverbund, dessen Eigenschaften denen einzelner Teilchen gleichen. Am absoluten Nullpunkt bewegen sie sich fast gar nicht mehr.

Zum Ab- und Aufbau der Vakuumkanne sind zwei bis drei Personen nötig. Vier Tage dauert es vom Aufdrehen der ersten Schraube bis zur ersten Messung. Allein das Abkühlen dauert fast drei Tage, dann ist die Temperatur von neun Millikelvin (minus 273,14 Grad Celsius) unten in der Vakuumkanne erreicht. Um auf diese Temperatur zu kommen, ist ein aufwändiger, mehrstufiger Prozess nötig mit Kühlung durch komprimiertes Heliumgas und eine Mischung von zwei Heliumisotopen. Die Vorkühlung findet in einem Raum neben dem Labor statt. Dort stehen brummende Technikschränke und ein Heliumkompressor. Zahllose Schläuche, Rohre, Kabel und Ventile verbinden die Elemente der gut 500.000 Euro teuren Anlage. Eine große Schalttafel im Labor ermöglicht die Steuerung. Läuft die Kühlung, sinkt die Temperatur in der „Thermoskanne“.

Wenn Ruhe eingekehrt ist bei den Atomen, beginnt die eigentliche Arbeit der Physikerinnen und Physiker. Kleine, gezielte Einflüsse von außen können dazu führen, dass Teilchen und Quasiteilchen wieder „wach“ werden. Dadurch kann ein Material neue Eigenschaften erhalten. Der äußere Impuls kann ein Lichtblitz sein, durch den sich die optischen oder elektronischen Merkmale verändern. Zu den besonders interessanten Untersuchungsobjekten gehören zweidimensionale Materialien, die nur aus einer einzigen Atomschicht bestehen. Ein fehlendes Atom in dieser Schicht kann entscheidend sein. Die Lücke kann zum Beispiel genutzt werden, um als Reaktion auf einen Lichtpuls einzelne Lichtteilchen zu erzeugen – was für die Datenübertragung bei Hochleistungsrechnern oder Quantencomputern der Zukunft hochinteressant ist.

„Wir betreiben Grundlagenforschung“, sagt Ursula Wurstbauer. „Wir wollen das Material verstehen, bevor es möglicherweise angewandt wird.“ Wenn eine Messung am Bluefors-Kryostaten läuft, haben Iris Niehues und die anderen Wissenschaftler der AG ihre Probe in der Vakuumkanne über einen Monitor im Blick, während sie durch ein winziges Fenster in der Aluminiumhülle mit einer Laser-Apparatur Lichtblitze auf die Probe schicken. Anschließend müssen sie Geduld haben. Erst zwei oder drei Tage später ist die Vakuumkanne aufgewärmt und kann wieder auseinandergebaut werden, um eine neue Probe einzusetzen.

CHRISTINA HOPPENBROCK

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, Mai 2021.

 

Labore an der WWU

Es blubbert, zischt und dampft? Die Wände sind gepflastert mit Warnhinweisen? Hier muss ein Labor sein! Für viele ist es ein Inbegriff von Naturwissenschaft. Aber auch Geistes- und Sozialwissenschaftler sowie Künstler arbeiten in Laboren, vor allem wenn es um die Erkundung neuer Formen oder Inhalte geht. In dieser Serie stellen wir Ihnen Labore aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen der WWU vor.

Links zu dieser Meldung