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Münster (upm/kk)
„Dynamik“ hat in der Forschung an der WWU eine vielfältige Bedeutung.<address>© WWU - Jan Lehmann</address>
„Dynamik“ hat in der Forschung an der WWU eine vielfältige Bedeutung.
© WWU - Jan Lehmann

Ein Begriff – drei unterschiedliche Interpretationen

Wie die drei Exzellenzcluster Dynamik verstehen und gebrauchen

So unterschiedlich der Begriff Dynamik in der Wissenschaft gebraucht und verstanden wird, so vielfältig sind auch die Forschungsbereiche der WWU, in denen Dynamik bereits im Titel eine zentrale Rolle spielt. Prof. Dr. Christopher Deninger und Prof. Dr. Mario Ohlberger vom Exzellenzcluster „Mathematik Münster“, der Jurist Prof. Dr. Nils Jansen vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ und die Biochemikerin Prof. Dr. Lydia Sorokin vom Exzellenzcluster „Cells in Motion“ erläutern, was sie in ihrer Forschung unter dem Begriff verstehen.

Zelldynamik in Homöostase, Entzündung und Infektion

Wir untersuchen Dynamiken im Verhalten von Zellen. Zellen sind ständig in Bewegung und passen sich neuen Situationen an: Sie teilen sich, bewegen sich im Organismus vorwärts, verbinden sich mit anderen Zellen und entwickeln sich zu Geweben und Organen. Damit diese richtig funktionieren, müssen Zellen in hochkomplexen Prozessen zusammenspielen. Wir untersuchen, wie Gene und Moleküle die Eigenschaften und das Verhalten einer Zelle bestimmen und wie die dynamischen Prozesse in einem Organismus im gesunden Gleichgewicht bleiben, welches wir „Homöostase“ nennen. Wir analysieren auch, wie sich intakte Zellsysteme zu erkrankten Systemen verändern und interessieren uns vor allem für Entzündungen: Immunzellen wandern dabei aus den Blutgefäßen ins Gewebe, um Infektionen zu bekämpfen oder Gewebeschäden zu reparieren. Diese Entzündungsreaktionen können ganz unterschiedlich ablaufen, je nachdem in welchen Organen sie vorkommen. Um Zellen bei der Arbeit zuschauen zu können, nutzen und entwickeln wir bildgebende Verfahren. Zentral dabei ist die Entwicklung neuer chemischer und mathematischer Methoden, die mit verschiedenen bildgebenden Verfahren kompatibel sind. Dadurch bergen sie auch das Potenzial, dass wir sie von der Anwendung bei Fruchtfliegen, Zebrafischen und Mäusen auf klinische Bildgebungsverfahren übertragen und für die Diagnostik bei Patienten nutzbar machen können.

Prof. Dr. Lydia Sorokin, Biochemikerin und Sprecherin des Exzellenzclusters "Cells in Motion"<address>© WWU - Peter Grewer</address>
Prof. Dr. Lydia Sorokin, Biochemikerin und Sprecherin des Exzellenzclusters "Cells in Motion"
© WWU - Peter Grewer
Dynamik hat bei uns aber noch eine weitere Dimension: Durch die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus ganz unterschiedlichen Fächern kommt ordentlich Bewegung in unser Forschungsgebiet. Wir haben im Laufe der Jahre die traditionellen Grenzen zwischen Fächern aufgebrochen und erleben, wie sich Fragen und Ergebnisse aus unterschiedlichen Disziplinen gegenseitig antreiben und voranbringen: Biomediziner identifizieren Moleküle, die für bestimmte zelluläre Vorgänge wichtig sind. Chemiker entwickeln Stoffe, mit denen sich diese Moleküle oder Zellen markieren und sichtbar machen lassen. Mathematiker und Informatiker entwickeln Algorithmen, die mit künstlicher Intelligenz die entstehenden Datenmengen analysieren können. Ein Computer kann so spezifische Muster im Zellverhalten in vielen unterschiedlichen Geweben erkennen – was wiederum neue biomedizinische Fragen aufwerfen kann.

Autorin: Prof. Dr. Lydia Sorokin

 

Die Sprecher des Exzellenzclusters "Mathematik Münster" Prof. Dr. Christopher Deninger und Prof. Dr. Mario Ohlberger<address>© WWU - Peter Leßmann</address>
Die Mathematiker und Sprecher des Exzellenzclusters "Mathematik Münster" Prof. Dr. Christopher Deninger und Prof. Dr. Mario Ohlberger
© WWU - Peter Leßmann
Mathematik Münster: Dynamik - Geometrie – Struktur

In der Mathematik versteht man unter Dynamik oder genauer unter einem dynamischen System einen Raum, auf dem Transformationen wirken, welche die Punkte des Raumes in andere Positionen verschieben. Falls die Transformationen rückgängig gemacht werden können, so spricht man von reversibler Dynamik oder von Symmetrien. Hierunter fallen zum Beispiel die Drehungen und Spiegelungen geometrischer Körper oder die bis heute nicht vollständig verstandenen Symmetrien algebraischer Gleichungen. Generell sind Symmetrien ein grundlegendes Ordnungsprinzip. Ein bekanntes Beispiel: Die Symmetriegruppe von Rubiks Würfel, auch Zauberwürfel genannt, ist zwar mit mehr als 43.000.000.000.000.000.000 Elementen riesig, aber ihre Struktur ist vollständig verstanden. In mathematischer Terminologie lautet sie:

 

 

Unter anderem kann man damit zeigen, dass aus jeder Position zwanzig Züge reichen, um den Würfel in den Ausgangszustand – also gleichfarbige Seiten – zurückzukehren. Die Symmetrien, die wir im Exzellenzcluster untersuchen, sind natürlich komplizierter und weit weniger verstanden.

Oft sind die Transformationen, welche die Dynamik beschreiben nicht reversibel, das bedeutet, dass bei ihrer Anwendung Informationen verloren gehen. In diesem Fall interessieren wir uns besonders für das Langzeitverhalten des dynamischen Systems: Wenn man eine Transformation immer wieder anwendet, so entwickelt sich das System bei jeder erneuten Anwendung weiter. Man stellt sich dies als zeitliche Entwicklung des Systems in diskreten Zeitschritten vor.

Analog treten kontinuierliche dynamische Systeme auf, die man sich entsprechend als kontinuierliche zeitliche Entwicklungen vorstellt. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die zeitliche Evolution der Punkte des Universums mathematisch formalisieren. Alle sogenannten parabolischen partiellen Differentialgleichungen geben Anlass zu solchen kontinuierlichen dynamischen Systemen. Diese treten sowohl bei vielen naturwissenschaftlichen Fragestellungen in der angewandten Mathematik auf als auch in der theoretischen Mathematik, zum Beispiel beim Studium des Ricci-Flusses, mit dessen Hilfe spektakuläre Resultate über die Struktur dreidimensionaler Räume gewonnen wurden. Eine wichtige Forschungsrichtung im Exzellenzcluster Mathematik Münster: Dynamik – Geometrie –Struktur betrifft die Verallgemeinerung dieser Techniken auf höherdimensionale Räume und ihre Anwendungen.

Autoren: Prof. Dr. Christopher Deninger / Prof. Dr. Mario Ohlberger

 

Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation

In der neuen Clusterphase beschäftigen wir uns mit dem sich historisch wandelnden Verhältnis von Religion und Politik. Unsere Leitfragen sind dabei: Auf welche Weise vermag Religion gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen zu stimulieren, einzudämmen und zu modifizieren? Worin liegt ihre dynamische Potenz begründet? Welche externen Bedingungen begünstigen ihre Mobilisierungsfähigkeit oder schränken sie ein?

Der Sprecher des Exzellenzclusters "Religion und Politik" Prof. Dr. Nils Jansen<address>© WWU - Peter Grewer</address>
Der Sprecher des Exzellenzclusters "Religion und Politik" Prof. Dr. Nils Jansen
© WWU - Peter Grewer
Mit diesem Ansatz lenken wir die Aufmerksamkeit auf die aktive Rolle von Religion in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen von Gesellschaften und grenzen uns damit insbesondere von Säkularisierungstheorien und anderen Theorieansätzen ab, die bei der Erklärung der sozialen Signifikanz religiöser Gemeinschaften dazu neigen, Religion als eine traditionale Größe zu behandeln, die Umweltveränderungen lediglich reaktiv ausgesetzt ist. Demgegenüber fragen wir, wie Religion – möglicherweise auch unter Bedingungen zunehmender Konfessions- und Religionslosigkeit – gesellschaftlich-politischen Wandel zu initiieren und zu beeinflussen vermag und wie sie sich selbst in den sich wandelnden Verhältnissen verändert. Mit der Dynamik von Religion meinen wir also ihr Potential, gesellschaftliche Prozesse und Konflikte zu beschleunigen und zu verstärken beziehungsweise umgekehrt abzubremsen und auszugleichen.

Damit rückt zugleich das dynamische Zusammenspiel von religiöser Tradition und Innovation in den Fokus: Traditionen vermögen selbst zu einer Quelle von Erneuerung zu werden; Innovationen können sich unter einem traditionalen Deckmantel verbergen, müssen sich aber immer wieder vor der Macht des Hergebrachten legitimieren. Besondere Aufmerksamkeit auf die Eigendynamik des Religiösen zu legen, schließt ein, auch politischen, sozialen und ökonomischen Kontexten Beachtung zu schenken. Nur aus dem Zusammenwirken von religiösen und außerreligiösen Faktoren lässt sich die Dynamik religiösen Wandels erklären.

Letztlich zielen unsere Untersuchungen darauf, spezifische Modi religiösen Wandels zu identifizieren. Wir rekonstruieren die Interdependenz und Differenzierung von Religion und nichtreligiösen sozialen Sphären; wir analysieren Modi von Konflikten und Versöhnung, aber auch von Vermischung, Transformation, Kritik und Selbstkritik. Und schließlich fragen wir, wie sich die Dynamik des Religiösen in diversen kulturellen Kontexten politisch-rechtlich einhegen lässt.

Autor: Prof. Dr. Nils Jansen

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