Binge-Pitching: Mit Elan und Kreativität Probleme lösen
Die Herbstsonne, im Südwesten stehend, scheint an diesem Novembernachmittag auf die Glasflächen des Berliner Bürgeramts Mitte. Die Strahlen werden so reflektiert, dass sie Teile des „Cafe Moskau“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite erleuchten. Die Sonne passt zu dem, was im ersten Stock des eingerichteten „Falling Walls Science House“ passiert: Dort erfüllen innovative Ideen, Enthusiasmus und Leidenschaft den Raum – und das hundertfach.
Der Autor und Kolumnist Peter Littger hat sich 2024 in seinem Text „Ich binsch dann mal weg“ für das Magazin „Stern“ mit dem englischen Wort „to binge“ beschäftigt. Darin beschreibt er die Wortherkunft bis in die Gegenwart, wo „bingen“ verschiedene Formen des Exzesses und der Maßlosigkeit bedeuten kann – etwa das „Binge-Drinking“, also das exzessive Betrinken, oder das populär gewordene „Binge-Watching“. Auch der Duden hat diesen Begriff vor wenigen Jahren ins Wörterbuch aufgenommen und definiert ihn als „stundenlanges Anschauen mehrerer Folgen einer Serie hintereinander“. Der „Falling Walls Science Summit“ im Cafe Moskau beweist, dass es eine weitere, anregende und beeindruckende Art des Bingens im Sinne der positiven Ausschweifungen gibt: das Binge-Pitching.
Was es dafür braucht und wie das aussieht? Zunächst veranstaltet man mithilfe von Partnern auf der ganzen Welt, etwa der Universität Münster, sogenannte „Labs“. Dort bewerben sich engagierte und aufstrebende Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in frühen Karrierephasen und hoffen auf eine Einladung, um einer Jury in dreiminütigen Präsentationen – den Pitches – ihre Idee, ihr Projekt oder ihre Initiative vorzustellen. Die Gewinner der regionalen Wettbewerbe erhalten schließlich ein Ticket nach Berlin, um sich mit der internationalen Konkurrenz zu messen und den Titel „Falling Walls Science Breakthrough 2025 – Emerging Talents“ zu erringen. Binge-Pitching ist natürlich keine offizielle Bezeichnung, aber die Zahlen untermauern das Bild: 2025 wurden 82 internationale Labs in 60 Ländern ausgerichtet, mehr als 2.750 Bewerbungen gingen dort ein. Über 1.000 Bewerberinnen und Bewerber durften ihre Ideen präsentieren und die Sieger der Labs, 100 an der Zahl, haben sich an diesem 6. November 2025 im „Falling Walls Lab“ unweit des Alexanderplatzes versammelt. Eine von ihnen ist Elham Iravani von der Universität Wuppertal. Nachdem sie am münsterschen Hafen Mitte September das „Falling Walls Lab Münster“ gewonnen hat, darf auch sie ihre Arbeit zur verbesserten Früherkennung von Autismus präsentieren.
Wenige Minuten nach 9 Uhr, nach Grußworten der Veranstalter und von Bundesforschungsministerin Dorothee Bär, beginnt das Pitchen. Aufgeteilt in drei Blöcke stehen 100 Präsentationen an. Groß und gut sichtbar, in weißer Schrift auf rotem Untergrund gut sichtbar, laufen die drei Minuten unnachgiebig herunter, sobald die Präsentation beginnt. In der ersten Reihe sitzt eine dreizehnköpfige Jury, die sich unter anderem aus Wissenschaftlerinnen, Unternehmern und Stiftungsmitgliedern zusammensetzt. Die Jury hat die Aufgabe, einen Sieger aus den 100 Teilnehmern zu küren. Dafür bewertet sie erstens die Innovationskraft der vorgestellten Idee, zweitens ihre Relevanz und Wirkung sowie drittens die Vortragsweise. Um diese Rolle beneiden die Anwesenden im „Curie-Raum“ und das Publikum im Livestream die Jury wohl nicht.
Das Tempo ist hoch, es gibt keine Fragerunden, keine nennenswerten Unterbrechungen. Sobald eine Person fertig ist, betritt die nächste die Bühne, während diese per Ansage kurz vorgestellt wird. Die nächsten drei Minuten starten. Das geht pro Block über dreißigmal so – zwischendurch gibt es nur einen einzigen zweiminütigen „Brain Break“, in dem das Publikum kurz abschalten kann. Zwischen den Blöcken gibt es zwar zwei längere Pausen, aber auch diese können nicht über die blanke Mathematik hinwegtäuschen: Innerhalb eines Tages, von circa 9.30 bis 17 Uhr, hören Jury und Publikum 100 verschiedene, mitunter komplexe Ideen – von der Medizin über die Landwirtschaft bis zur Chemie. In der Summe sind das 300 Minuten. Fünf Stunden.
Das klingt anstrengend. Und es ist anstrengend. Aber der Lohn des regungslosen Sitzens und gebannten Zuhörens, des Mitfieberns und Nachdenkens, des Applaudierens und Mitfühlens ist ein besonderer: Inspiration, Zuversicht, Verbundenheit. Denn mit dem Falling Walls Lab löst die „Falling Walls Foundation“ das ein, was sie sich mit dem Gipfel seit 2009 vornimmt: Sie vereint, im Lab und in vielen anderen Formaten vier Tage lang, brillante Denkerinnen und Denker, um Hürden in Wissenschaft und Gesellschaft zu überwinden.
Denn obwohl so geballt und wiederholt von Krebs, Armut, Exklusion, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Umweltverschmutzung oder Klimawandel gesprochen wird, stellt sich keine spürbare Resignation oder Angst ein. Denn anders als bei den Nachrichten, die oft nur von Problemen, Krisen und Konflikten berichten können, vermag das „Lab“ mehr: Neben der Konfrontation mit unbequemen und beunruhigenden Wahrheiten vermittelt das Format die Aussicht, dass es Lösungen für viele Herausforderungen gibt. Genauer gesagt sind es die klugen und engagierten Köpfe, die dort auftreten und sprechen. Sie benennen nicht nur Probleme und Hürden, sondern zeigen gleichzeitig, dass sie und viele andere Menschen auf dieser Welt daran arbeiten, die Hürden – oder Mauern – zu überwinden oder gleich einzureißen. Das geschieht in Peru und Deutschland, in Botswana und in der Mongolei, in Kanada und im Oman; mit Photonen und Ultraschall, mit Sensoren und Software, mit Chemie und Ingenieurskunst. Und vor allem mit Elan, Leidenschaft und der Zuwendung zum Menschen.
Die Siegerin, verkündet am frühen Abend, ist übrigens die Spanierin Karen de la Vega-Hernández mit ihrem Pitch „Breaking the Walls of Molecular Monotomy“. Sie hat anschaulich dargelegt, wie sie mithilfe einer Basis immer neue und passgenaue Medikamente herstellen will – sie verglich es mit dem Belegen einer Pizza nach den individuellen Bedürfnissen. Doch auch wenn der Tag mit der Siegerehrung beschlossen wurde, war Gewinnen nur ein kleiner Teil dieses auf- und anregenden Tages. Stets spürbar waren die Solidarität und Freude unter den Talenten. Oder wie es Lab-Moderator Joey Leskin abschließend fomulierte: „Everyone wants to support each other.“
Stimmen zum Falling Walls Science Summit
Die Universität Münster, Partner der Falling Walls Foundation und 2025 erstmals Ausrichter eines regionalen „Falling Walls Lab“, ist auf dem Gipfel stark vertreten. Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels, zahlreiche Professoren und Wissenschaftlerinnen sowie Mitglieder des REACH – Euregio Start-up Centers und des Zukunftslabors sind mit dabei. Sie saugen die Atmosphäre und Ideen auf, sprechen mit den internationalen Teilnehmern und zeigen, dass auch die Uni Münster gegenwärtige und zukünftige Mauern überwinden will.
„Das Besondere an diesem Gipfel ist die Dichte. Nirgends sonst auf der Welt kommen junge und erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Start-up-Gründer und namhafte Unternehmer sowie die Politik derart zusammen. Sie alle erkennen den Wert von Wissenschaft und blicken multiperspektivisch auf Herausforderungen und Lösungen.“ – Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels
„Ich bin begeistert von der Internationalität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und der Qualität ihrer Ideen und Arbeit. Mit Einfallsreichtum und Engagement nehmen sie globale, aber auch regionale Probleme in den Blick und versuchen, diese zu lösen.“ – Prof. Dr. Seraphine Wegner, Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie
„Es ist interessant, außerhalb des eigenen Fachs unterwegs zu sein und so viel aus anderen Disziplinen zu lernen. Bei den Lab-Pitches hätte ich mir aber eine Fragenrunde gewünscht, um besser zu verstehen, wie die Leute arbeiten.“ – Jesco Schönfelder, Promovend am Institut für Physikalische Chemie
„Die Welt ist voller großartiger Ideen. Ich wünsche mir mehr solcher Formate – sie zeigen, was Wissenschaft alles kann und könnte.“ – Nadja Rotte, Zukunftslabor der Universität Münster
„Der Summit beweist, dass Wissenschaft nahbar sein kann. Die Ideen bekommen hier die Bühne, die sie verdient haben. Es wäre toll, wenn alle 100 vorgestellten Projekte weiterverfolgt und gefördert würden.“ – Barbara von Groote-Gotzes, Zukunftslabor der Universität Münster
Autor: André Bednarz