„Hochschulen sind dem Studienerfolg verpflichtet“
Wer strengere Anwesenheitsregeln für bestimmte Veranstaltungen befürwortet, gilt schnell als altmodisch. Man traue den Studierenden die Selbstorganisation nicht zu. Dr. Stefan Rinner lehrt Theoretische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen und denkt das Thema vor allem vom Ziel her: ein erfolgreich abgeschlossenes Studium. Im Interview mit Hanna Dieckmann schildert er die Unterschiede zwischen Hochschulen in Österreich und Deutschland und bewertet das Fehlen einer Anwesenheitspflicht.
Sie haben in Österreich studiert und zeitweise auch unterrichtet. Wie sieht es mit der Anwesenheitspflicht in unserem Nachbarland aus?
In Österreich wird zwischen prüfungsimmanenten und nicht prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen unterschieden. Bei Ersteren beruht die Beurteilung nicht auf einer einzigen abschließenden Prüfung, sondern auf mehreren Teilleistungen – inklusive regelmäßiger Mitarbeit. Dazu gehören unter anderem Übungen und Seminare. Zu den nicht prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen gehören zum Beispiel Vorlesungen. Hier besteht die Beurteilung in einer einzelnen Prüfung am Ende der Veranstaltung in Form einer Klausur. In prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen erlaubt das Gesetz eine Anwesenheitspflicht. An der Universität Salzburg, wo ich studiert und unterrichtet habe, müssen die Studierenden zu mindestens 80 Prozent anwesend sein, um bestehen zu können. Ohne einen wichtigen Grund wie eine Krankheit oder die Pflege eines Angehörigen geht man andernfalls von einem Prüfungsabbruch aus. Der Grund für die Anwesenheitspflicht liegt gerade darin, dass in prüfungsimmanenten Veranstaltungen die Beurteilung auf mehreren Leistungen beruht und dies unter anderem die Mitarbeit einschließt.
Heute lehren Sie an der Universität Duisburg-Essen. Welche Unterschiede nehmen Sie in den Kursen, aber auch beim Lernerfolg der Studierenden wahr?
In der Philosophie gibt es keine Anwesenheitspflicht. Die Prüfungsleistungen wie Hausarbeiten oder mündliche Prüfungen sind an Module gekoppelt, die aus mehreren Kursen bestehen. Die Kurse selbst sollen auf diese Prüfungen vorbereiten. Allerdings führt dieses Abkoppeln der Prüfungsleistungen von Seminaren zusammen mit der fehlenden Anwesenheitspflicht dazu, dass die Studierenden oft wenig Gründe sehen, regelmäßig an einem Seminar teilzunehmen. Das hat wiederum eine hohe Fluktuation im Laufe eines Semesters zur Folge, was eine stetige Arbeit an den Inhalten sehr erschwert. Zugleich fehlen den Studierenden dadurch oft die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten, um die Prüfungen zu bestehen.
Lassen sich Ihre Erfahrungen auf den großen Kontext übertragen? Wie sieht die Studienlage in der Bildungsforschung in Bezug auf die Anwesenheit aus?
Die Bildungsforschung zeigt einen klaren Zusammenhang zwischen der Anwesenheit in universitären Kursen, insbesondere in Seminaren, und dem Lernerfolg. Dieser Zusammenhang wurde in zahlreichen Studien untersucht und dokumentiert. Der verstorbene Hamburger Pädagogikprofessor Dr. Rolf Schulmeister verfasste 2020 eine umfassende Analyse von 372 Studien, in der er einen möglichen Zusammenhang zwischen Anwesenheit und Prüfungsleistung untersuchte. Sie ergab, dass über 200 von 229 Studien eine positive signifikante Beziehung feststellten. In einer weiteren Meta-Analyse aus dem Jahr 2010 kamen Forschende um Prof. Dr. Marcus Credé zu einem ähnlichen Ergebnis. Dabei legt die Studienlage nahe, dass der Zusammenhang zwischen Anwesenheit und Lernerfolg unabhängig von Faktoren wie Land, Geschlecht, Alter oder Universität besteht.
Sie sind offensichtlich für eine Anwesenheitspflicht: Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie in der Lehre gemacht, die Sie davon überzeugen?
Ich plädiere für eine Anwesenheitspflicht in Seminaren. Dabei spielen meine Lehrerfahrungen eine Rolle. Meines Erachtens sind diese jedoch nur Ausdruck eines tieferliegenden Problems. So ist eines der zentralen Lernziele von Seminaren in der Philosophie, die Studierenden zu einem kritischen und argumentativen Austausch zu befähigen. Wie sollen wir die Studierenden dabei unterstützen, wenn sie nicht regelmäßig anwesend sind? Ohne eine Anwesenheitspflicht kann die Universität nicht einmal Rahmenbedingungen garantieren, in denen die Studierenden diesen Austausch mit anderen üben können. Dabei darf man nicht vergessen, dass Hochschulen laut Hochschulzukunftsgesetz dem Studienerfolg verpflichtet sind.
Dieser Artikel ist Teil einer Themenseite zur Anwesenheitspflicht und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 5. November 2025.