|
Das Bild zeigt fünf Studierende, die sich unterhalten und durch den Torbogen des Juridicums laufen<address>© Uni MS - Linus Peikenkamp</address>
Wenn immer größere Anteile des Studiums am heimischen Schreibtisch gemacht werden können, wie sieht dann die Universität der Zukunft aus? Hier treffen sich Studierende am Juridicum der Universität Münster.
© Uni MS - Linus Peikenkamp

Sorge vor „Leere in der Lehre“

Halbvolle Seminare und Vorlesungen: Debatte über Anwesenheitspflicht der Studierenden

Es war vor allem als Hilferuf gedacht, als sich zwei Professoren der Universität Köln vor einigen Tagen mit einem Gastbeitrag in der „FAZ“ zu Wort meldeten. „Wir brauchen eine Anwesenheitspflicht an den Unis“, postulierten die Kultursoziologin Julia Reuter und der Sozialwissenschaftler Tim Engartner. Sie würden selbstverständlich die studentischen Freiheiten anerkennen und die „vielen berechtigten Gründe“ für die Nicht-Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren akzeptieren. Gleichwohl sollten die Studierenden „die kostenlose Lehre als das wohl größte Privileg“ eines Studiums wertschätzen. Der Text der beiden Hochschullehrer war jedoch mehr als „nur“ ein Appell, es war gleichzeitig eine Art Hilferuf. Spätestens mit der Coronapandemie, schrieben sie, sei es keine Selbstverständlichkeit mehr, den Campus als „Dreh- und Angelpunkt“ des Studiums zu verstehen. Freiwilligkeit statt Präsenz also: „Uns Hochschullehrer und viele Studierende treibt die Sorge vor der gähnenden Leere in der Lehre um.“

Tatsächlich hat mit dem Ende der Pandemie das Thema der Präsenz-Universität einen neuen „Drive“ bekommen. Bereits lange vorher hatten sich die 16 Bundesländer auch mit gerichtlicher Unterstützung von einer pauschalen Anwesenheitspflicht verabschiedet, von einigen Ausnahmen wie Praktika, Laborübungen und Sprachkursen abgesehen. Und dann kamen die drei Corona-Jahre, als die digitale Lehre zwangsläufig dominierte und sich offenbar mehr und mehr der Glaube durchsetzte, dass Abwesenheit keine Nachteile mit sich bringe, sondern dass sich vielmehr ein Studium praktischerweise zu einem (Groß-)Teil vom Schreibtisch daheim bewältigen lasse.

Ein Ergebnis dessen ist, dass immer mehr Dozenten von maximal halbvollen Seminaren und Vorlesungen berichten. Allerdings fast immer hinter vorgehaltener Hand, denn niemand will in den Verdacht geraten, an der Gesetzmäßigkeit der aktuellen Vorschriften oder der Selbstverantwortung der Studierenden zu zweifeln.

Und so rufen die Anwesenheits-Befürworter zum einen die Universitäts-Idee an sich in Erinnerung. Die Hochschulen seien weit mehr als nur ein Lernort, sie dienten den Studierenden auch als „sozialer Resonanzraum“. Zum anderen führen sie didaktisch-pädagogische Argumente ins Feld. Etwa eine Meta-Analyse von 2018, wonach eine Anwesenheitspflicht mit dem akademischen Erfolg korreliere. Viele Inhalte, betonen auch die beiden Kölner Forscher in der FAZ, ließen sich erst durch Erläuterungen und Diskussionen vermitteln; hinzu komme der Segen der Vertiefung des Gelernten durch unterschiedliche Perspektiven. Selbst auf dem studentisch geprägten Portal „meinstudium.net“ heißt es: „Präsenz bedeutet nicht nur körperlich anwesend zu sein, sondern mitzudenken und mitzumachen. Und das macht in vielen Fällen einen echten Unterschied.“

Das betont auch Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich, die am Historischen Seminar der Universität Münster arbeitet. Die Anwesenheit habe auch eine psychologische Dimension, für ein „motivierendes Arbeitsklima“ seien alle Beteiligten verantwortlich. Schließlich verabschiedete das Englische Seminar der Universität Münster im Dezember 2024 mit den Stimmen der Studierenden eine Resolution, in der die Studierenden „nachdrücklich ermutigt werden, regelmäßig am Unterricht teilzunehmen“. Dies sei auch „eine Frage der Fairness und des Respekts gegenüber allen Kommilitonen“.

Der Sprecher des deutschen Hochschulverbands, Matthias Jaroch, bleibt dennoch dabei: „Die Anwesenheitspflicht sollte die begründungspflichtige Ausnahme sein.“ Eine Hochschule sei keine Schule, das Studium lebe von Eigeninitiative. Eine Teilnahmepflicht sollte sich nur aus der „spezifischen Form einer Veranstaltung“ ergeben; in Seminaren und Praktika etwa sei der wissenschaftliche Austausch in Präsenz wichtig.

Der 2019 verstorbene Bielefelder Pädagoge Prof. Dr. Ludwig Huber plädierte dagegen schon immer dafür, den Studierenden vor allem die negativen Folgen des „absenteeism“ zu veranschaulichen. Sie sollten erfahren, dass „lernende, diskutierende oder gar forschende Gruppen für ihren Fortschritt darauf angewiesen sind, dass jeder Einzelne kontinuierlich mitgeht“. Im Idealfall würden ihnen die Veranstaltungen das Gefühl vermitteln, „nicht nur aus formalen Gründen da sein zu sollen, sondern wirklich gebraucht zu werden“.

Autor: Norbert Robers

Dieser Artikel ist Teil eines Themenkomplexes zur Anwesenheitsppflicht und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 5. November 2025.

Links zu dieser Meldung