„Die Welt ist gespalten, die Stimme vereint“
Die Stimme ist das älteste Instrument und wahrscheinlich auch das vielfältigste. Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Michael Custodis erläutert im Interview mit Brigitte Heeke, welche Traditionen es gibt und wie sich Gesang und Gesellschaft wechselseitig beeinflussen.
Welcher Aspekt darf auf keinen Fall fehlen, wenn man mit einem Musikwissenschaftler über die Stimme spricht?
Musik ohne Stimme ist schlecht zu machen. Die aktuelle Studie ,Amateurmusizieren in Deutschland‘, die gerade beim Bonner Musikinformationszentrum erschienen ist, belegt dies deutlich. Der Anteil junger Chorsängerinnen und -sänger zeigt sogar steigende Tendenzen. Außerhalb der Musik ist zudem die Sprechstimme wichtig, etwa der Klang der Stimme eines Gegenübers. Das zeigt sich auch an der Beliebtheit von Hörbüchern.
Während bei Hörbüchern die Sprechstimme im Mittelpunkt steht, geht es ja bei der Musik um das Singen. Wie groß ist die Faszination für Gesang in der Musikkultur?
Viele Menschen hören gerne Musik. Aber welche Bedeutung hat das Singen aus musikwissenschaftlicher Sicht über den ästhetischen Genuss hinaus für die Gesellschaft?
Gesangsvereine waren zum Beispiel im 19. Jahrhundert für die Obrigkeiten eine große Gefahr. Denn über Liedtexte ließen sich leicht kritische Inhalte transportieren. Nach dem Revolutionsjahr 1848 standen viele Vereine entsprechend unter Generalverdacht. Später nutzte die Arbeiterbewegung Lieder für politische Botschaften. Bis heute spielt das Singen eine bedeutende Rolle: Neben Landesfarben und Flagge steht die Hymne für die Identifikation mit einem Staat an zentraler Stelle. Dazu gehört fast immer eine Gesangsstimme. Wenn politische Bewegungen auf die Straße gehen, sind die Übergänge von Slogans zu Gesängen fließend, ebenso im Fußballstadion. Auch bei vielen anderen Traditionen wie dem Eurovision Song Contest oder weiteren medienwirksamen Wettbewerben steht die Stimme im Mittelpunkt. Die tiefe emotionale Verbindung machen sich Friedensbewegungen zu eigen, nach dem Motto: Die Welt ist zwar gespalten, aber die Stimme vereint.
Was kann die Stimme denn konkret zur Gesellschaft beitragen?
Politiker erhalten Stimmtraining, um die Menschen zu erreichen. Audio-Aufnahmen berühmter Aussagen werden ikonisch, zum Beispiel Kennedys ,Ich bin ein Berliner‘. Im übertragenen Sinne geben wir unsere Stimme bei Wahlen ab, für die Demokratie ist das substanziell. Auch an einer Universität geht nichts ohne die Stimme. Beim ,March for Science‘ erheben wir unsere Stimme für die Wissenschaft. Alle Fachbereiche sind in irgendeiner Form auf die Stimme angewiesen. Und was das Singen angeht: Die Anzahl der Chöre ist selbst für eine große Universität wie Münster ungewöhnlich hoch.
Kann es auch passieren, dass die Stimme in der Musik irgendwann verstummt?
Das früheste bekannte Instrument ist eine Knochenflöte, etwa 60.000 Jahre alt. Die historische Musikwissenschaft vermutet aber, dass die Menschen weit früher angefangen haben zu singen. Der Gesang kam gleichzeitig mit der Sprache in die Welt, vielleicht sogar früher. Das ist spekulativ, es wäre vor über 500.000 Jahren. Diese enorme Zeitspanne und die große Vielfalt zeigen: Solange es Musik gibt, brauchen wir auch die Stimme.
Dieser Beitrag ist Teil einer Themenseite zur „Stimme“ als Instrument des Jahres und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2025.
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