
Was macht die Stimme aus?
Was macht eine gesunde Stimme aus?
Ob im Café, im Klassenzimmer oder Videocall: Unsere Stimme begleitet uns durch den Tag. Das geschieht meist unbewusst, obwohl die Stimme von großer Bedeutung ist. Sie ist nicht nur Transportmittel für Sprache, sondern ein Spiegel unserer Emotionen, unserer Persönlichkeit und Gesundheit. Wie wichtig sie dabei ist, zeigt eine vielzitierte Studie aus dem Jahr 2017: In fünf Experimenten mit über 1.700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zeigte sich, dass allein die Stimme eine höhere empathische Genauigkeit ermöglicht als Mimik oder Körpersprache. Anders gesagt: Die Stimme verrät mehr über unsere Gefühlslage als unser Gesichtsausdruck.
Doch was ist eine „gesunde“ Stimme? Und wann ist sie krank? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Phoniatrie. Eine gesunde Stimme ist klar, belastbar, frei von Heiserkeit oder Druckgefühl. Sie trägt mühelos über Stunden, gleich ob im Lehrberuf, beim Singen oder in der Kommunikation mit Familie und Freunden. Eine kranke Stimme dagegen führt häufig zu Kommunikationsproblemen, beruflichen Einschränkungen und sozialem Rückzug.
Unsere Stimme ist auch ein Ausdruck unserer Identität. Besonders deutlich wird das bei transidenten Menschen, für die eine stimmliche Anpassung ein wichtiger Schritt in der Geschlechtsangleichung ist – oft entscheidender als chirurgische Maßnahmen. Die Stimme beeinflusst maßgeblich, wie wir uns selbst erleben und wie wir von anderen wahrgenommen werden.
In unserer Klinik helfen wir Menschen, ihre Stimme zu regenerieren, zu pflegen und zu erhalten. Dabei geht es nicht nur um Sprechen und Singen. Auch Patientinnen und Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie der Parkinson-Krankheit, mit Depressionen oder „nur“ einer alternden Stimme profitieren von gezielter Stimmtherapie. Unsere Stimme ist nicht nur Ausdruck, sondern auch Indikator: Charakteristische Veränderungen können Hinweise auf Erkrankungen oder deren Verlauf geben, beispielsweise bei Schilddrüsen-Funktionsstörungen oder neurodegenerativen Prozessen. Kurzum: Die Stimme ist unsere akustische Visitenkarte – sie verdient es, dass wir ihr Gehör schenken.
Dr. med. Katrin Neumann und Dr. med. Philipp Mathmann, Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Münster
Was ist eine starke Stimme?
Ich erinnere mich an eine Schulstunde im Winter. Vom Stillsitzen ist mir kalt. Der Geschichtslehrer hält hinter seinem Tisch einen endlosen Monolog, auf dessen Inhalt ich mich partout nicht konzentrieren kann. Aber: Was für eine tolle warme Stimme! Es ist wie ein Bad in Vibrationen – plötzlich entspannt sich mein Körper, die Wärme strömt bis in die Zehen.
Wenn ich heute mit jemandem an seiner Stimme arbeite, dann fördern wir die Durchlässigkeit des Körpers, vertiefen den Atem, regen die Resonanz an und präzisieren die Artikulation. Das ist nicht trennbar von der Lebendigkeit und Emotionalität der Person. Oft sind Stimmen wie abgeschnitten von Teilen des Körpers und den Gefühlskräften und dadurch eingeschränkt. Eine starke Stimme vibriert frei im Körper und ist ausdrucksfähig. Weil der Sprecher oder die Sprecherin die innere Bewegung hörbar zulässt, bin auch ich bewegt und gehe in Resonanz.
Von vielen Menschen werden Stimmen als „stark“ empfunden, wenn sie durch bestimmte auffällige Eigenschaften wie Rauheit, Verhauchen oder Flüsteranteil einen auffälligen Charakter haben. Arnold Marquis, der Synchronsprecher von John Wayne, ist berühmt geworden durch seine markant raue Stimme. Unter dem Aspekt der stimmlichen Gesundheit eine Katastrophe – dafür auffällig und passend zu den Filmfiguren.
Normalerweise ist das Ziel sprecherzieherischen Trainings eher, eine Stimme so einzusetzen, dass sie belastbar, durchsetzungsfähig, flexibel und effizient ist – und den Sinn des Ausspruchs hörbar macht. Das ist für alle, die beruflich viel sprechen müssen, enorm wichtig. Umso erstaunlicher ist es, dass die Pflege des eigenen Aussehens oft viel mehr Aufmerksamkeit bekommt als die Pflege der eigenen Stimme. Von Natur aus mit einer starken Stimme gesegnet sind nicht viele Menschen, alle anderen können sich durch Training diesem Ziel annähern. Im Unterschied zu meinem ehemaligen Geschichtslehrer, der „nur“ eine tolle Stimme hatte, landet das Gesagte bei den Zuhörern.
Heike Appel, Dozentin am Centrum für Rhetorik, Kommunikation und Theaterpraxis
Was verrät die Stimme über die Psyche?
Die menschliche Stimme ist weit mehr als ein Transportmittel für Sprache – sie ist ein akustischer Spiegel der Psyche. An der Universität Münster untersuchen wir, wie sich psychische Störungen wie Depression und Anorexie in stimmlichen Merkmalen manifestieren. In der Stimme von Patientinnen und Patienten mit Depression zeigen sich etwa Veränderungen in der Grundfrequenz, im Sprechtempo und Artikulationsaufwand – was möglicherweise ein Ausdruck verminderter affektiver Erregung und psychomotorischer Verlangsamung ist. Auch bei Magersucht (Anorexie) finden sich charakteristische Muster: reduzierte stimmliche Dynamik, monotone Intonation, flache Prosodie. All dies sind potenzielle Hinweise auf ein gedämpftes emotionales Erleben und eine ausgeprägte kognitive Kontrolle.
In der Psychotherapieambulanz erfassen wir stimmliche Parameter im Rahmen psychotherapeutischer Erstgespräche, um zu prüfen, inwiefern sich Art und Schweregrad der Symptomatik, das Ausmaß psychischer und sozialer Beeinträchtigungen sowie das Ansprechen auf Psychotherapie vorhersagen lassen. Ziel ist ein objektives, niedrigschwelliges Diagnoseverfahren, das die klinische Einschätzung und andere diagnostische Instrumente sinnvoll ergänzt.
Darüber hinaus analysieren wir Therapiesitzungen mit Patientinnen, die an Anorexie leiden, um stimmliche Hinweise auf emotionale Erregung zu identifizieren. Unser Fokus liegt dabei sowohl auf der individuellen Ebene – also auf der affektiven Selbstregulation der Patientinnen – als auch auf der zwischenmenschlichen Dynamik: Wie beeinflussen sich Therapeutin und Patientin wechselseitig in ihrem emotionalen Erleben? Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Synchronie in der Stimmgrundfrequenz – einem potenziellen Marker für Empathie und emotionale Verbundenheit. Diese Forschung eröffnet neue Perspektiven für eine mit künstlicher Intelligenz unterstützte Diagnostik und kann zugleich zu einem vertieften Verständnis zentraler Wirkmechanismen von Psychotherapie beitragen.
Prof. Dr. Timo Brockmeyer, Leiter der Arbeitseinheit für Klinische Psychologie und Translationale Psychotherapie sowie der Psychotherapie-Ambulanz
Dieser Beitrag ist Teil einer Themenseite zur „Stimme“ als Instrument des Jahres und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2025.
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