
Corona: Junge Menschen in stationären Jugendhilfe-Einrichtungen waren stark belastet
Jugendliche in stationären Jugendhilfe-Einrichtungen waren während der Coronapandemie von härteren Einschränkungen betroffen als Gleichaltrige in Familien – obwohl sie aufgrund von biografischen Erfahrungen oft deutlich stärker vorbelastet sind. Zu diesem Ergebnis kommen Prof. Dr. Claudia Equit und Elisabeth Thomas vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Münster, die für ihre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Studie 40 Betroffene befragt haben. Mit ihrer Untersuchung widmen sich die Autorinnen einer Gruppe, die in der Debatte über die Lehren aus der Coronapandemie bislang wenig Aufmerksamkeit findet – fünf Jahre nach dem ersten Lockdown liegt der Fokus noch immer weitgehend auf der Frage, inwieweit vor allem Schulschließungen den Kindern und Jugendlichen geschadet haben.
Die Sicherheitsauflagen in den Einrichtungen brachten Kontakt-Einschränkungen zur Herkunftsfamilie mit sich. Besonders harsch waren die Restriktionen im betreuten Einzelwohnen. Die jungen Menschen, die dort auf ein selbstständiges Leben vorbereitet werden, waren teilweise über Wochen isoliert, da die Einrichtungen persönliche Kontakte außerhalb des Einzel-Apartments untersagten. „Die Träger der Einrichtungen mussten die Auflagen umsetzen, obwohl diese womöglich Verletzungen der Kinder- und Jugendrechte bedeuteten“, stellt Elisabeth Thomas heraus.
Trotz der starken Auflagen zeigten die jungen Menschen ein hohes Maß an Verständnis und Bereitschaft, sich den Vorgaben zu fügen, und Kreativität im Umgang mit der Isolation. Ein Beispiel dafür sind die Ausführungen einer jungen Erwachsenen: „Meine beste Freundin ist jetzt auch meine Mitbewohnerin, und wir haben damals auch sehr viel gefacetimed, teilweise den ganzen Tag von 10 Uhr morgens bis 22 Uhr abends. Dann manchmal haben wir zusammen Schulaufgaben gemacht oder haben uns viel erzählt - wir hatten viel zu erzählen.“
Zudem fand das Lernen unter sehr erschwerten Bedingungen statt. „Häufig fehlten sowohl Laptops als auch ausreichende Internetverbindungen, was aber seitens der Schulen vorausgesetzt wurde“, erläutert Claudia Equit. Zudem gab es nicht genug Hilfestellung beim digitalen Lernen und Rückmeldungen zu den Leistungen.
Junge Menschen, die während der Pandemie in Pflegefamilien lebten, berichten von etwas besseren Bedingungen. Die Kontaktbeschränkungen waren in Jugendhilfe-Einrichtungen aufgrund der organisationalen Gruppensituation wesentlich stärker als in (Pflege-)Familien. Einige junge Menschen in Pflegefamilien klagten über fehlende Privatsphäre, eskalierende Konflikte oder Gewalt, während andere einen stärkeren Familienzusammenhalt und verbesserte Beziehungen hervorhoben.
Im Anschluss an die Studie werden Workshops mit jungen Menschen aus stationären Einrichtungen durchgeführt, um die vorläufigen Erkenntnisse für den Umgang mit neuen Pandemien oder vergleichbaren Krisenereignissen zu vertiefen. Der Perspektive der Fachkräfte widmet sich die Studie des Verbundprojektpartners der Technischen Universität Dortmund, beide werden im Anschluss zusammengeführt.
Hintergrund und Methodik
2023 lebten knapp 128.000 junge Menschen in stationären Wohngruppen, hinzu etwa 87.000 Jugendliche und junge Erwachsene in Pflegefamilien. Betreutes Einzelwohnen wird nicht gesondert erfasst. Für die qualitative Studie wurden 40 junge Menschen im Alter von 14 bis 22 Jahren aus 27 verschiedenen Einrichtungen unterschiedlicher Träger im gesamten Bundesgebiet interviewt. Die Befragten lebten in stationären Wohngruppen, im betreuten Einzelwohnen oder Pflegefamilien. Die Studie des Projekts „JuPa – Soziale Teilhabe von Jugendlichen in stationären Jugendhilfe-Einrichtungen und Pflegefamilien in Zeiten von Pandemien ermöglichen“ ist nicht repräsentativ, durch die breit gestreute Auswahl ist die Zielgruppe aber zentral abgedeckt. Erste Ergebnisse sind kürzlich im Sonderheft 19 der sozialpädagogischen Fachzeitschrift „neue praxis“ (np) erschienen.