
Erdkunde stärkt Klimabildung
Ist der aktuelle Geografieunterricht in den Schulen und Hochschulen didaktisch und inhaltlich auf der Höhe? Bedarf es nicht vielmehr kreativer Lehrmethoden, beispielsweise eines Einsatzes künstlicher Intelligenz (KI), um die Studierenden auf die Welt von morgen einzustimmen? Oder noch zugespitzter gefragt: Welche Art von Daseinsberechtigung hat das Fach mit Blick auf den rasanten technologischen Wandel überhaupt noch? Mit seinen jüngsten Anmerkungen zu diesem Thema hat Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann jedenfalls eine Debatte ausgelöst, die vielerorts – auch an der Universität Münster – für (Gegen-) Reaktionen sorgte. „Früher war es wichtig, Kartenlesen zu lernen. Das ist heute nicht mehr in diesem Maße nötig. Wir haben Navigationssysteme, jeder hat ein Handy und kann über GPS navigieren“, sagte der frühere Gymnasiallehrer Kretschmann der Deutschen Presse-Agentur. Da sich die Welt derzeit durch eine „KI-Revolution“ schnell verändere, müsse diese möglichst schnell auch in den Schulen abgebildet werden. Kretschmann monierte zudem, dass es „eine sehr konservative Strömung in der Schulpolitik“ gebe.
Das saß. 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fachbereichs Geowissenschaften der Universität Münster nahmen die Einlassungen Kretschmanns zum Anlass, in einem öffentlichen Brief gegenzuhalten. „Das Fach Erdkunde als Beispiel für festgefahrenen Konservatismus anzuführen, ist nicht angebracht. Die Unterrichtsinhalte gehen weit über das Kartenlesen hinaus“, betont der Geologe und Initiator des Briefs, Prof. Dr. David De Vleeschouwer. Geografie helfe dabei, Zusammenhänge zu verstehen. „Wie soll Klimabildung gelingen, wenn Geografie marginalisiert wird?“, fragen die Autorinnen und Autoren.
„Geografieunterricht ist weitaus mehr als nur Kartenkunde und hat schon lange nichts mehr mit Stadt, Land, Fluss zu tun“, sagt auch Prof. Dr. Andreas Eberth, Vorsitzender des Hochschulverbandes für Geographiedidaktik. „Vielmehr stehen die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Ursachen, aber auch von zukunftsfähigen Lösungsmöglichkeiten im Vordergrund.“ Ein unabhängiges Gutachten des Aktionsrats Bildung unterstützt ebenfalls die Argumentation. Darin heißt es: „Will man Bildung für nachhaltige Entwicklung im schulischen Kontext stärken, so kann dies insbesondere über das Fach Geografie gelingen.“ Entsprechend solle dem Fach „eine größere Bedeutung gerade auch bezüglich der zur Verfügung stehenden Stundenkontingente beigemessen werden“.
Ein Beispiel: Um optimale Standortbedingungen für Sonnen- oder Windkraftwerke zu ermitteln, seien geowissenschaftliche Kenntnisse von hoher Bedeutung. Wo steht die Sonne zu welcher Tageszeit? Wo weht der Wind üblicherweise am stärksten? Fragen, die David De Vleeschouwer zufolge im Geografieunterricht behandelt werden und die für Energieunternehmen von Bedeutung seien. „Durch gute Standortentscheidungen erwirtschaften die Betriebe hohe Gewinne, was dem Staat einen Mehrwert in Millionenhöhe bringt.“
Die münsterschen Forscherinnen und Forscher teilen die Einschätzung, technologische Fortschritte in den Unterricht integrieren zu müssen. Mithilfe von KI und Data Science könne man beispielsweise Datensätze analysieren und Szenarien für eine nachhaltige Entwicklung entwerfen. „Aber damit KI und solche Technologien verantwortungsvoll eingesetzt werden können, braucht es eine breite naturwissenschaftliche Bildung. Nur so können wir sicherstellen, dass technologische Innovationen nicht von realen Gegebenheiten und Bedürfnissen entkoppelt werden.“ Dafür sei der Geografieunterricht ideal geeignet, erklärt David De Vleeschouwer, da das Fach Beiträge aus Physik, Biologie, Wirtschaft und Chemie zusammenbringe.
Auch der Verband Deutscher Schulgeographie Baden-Württemberg zeigt sich verärgert. „Die Aussagen des Ministerpräsidenten wirken für viele engagierte und motivierte Geographielehrkräfte wie ein Schlag ins Gesicht“, heißt es in einem Statement. „Urteils- und Handlungskompetenz erwächst nicht aus der reinen KI-Nutzung. Dafür braucht es realen Unterricht und kognitive Aktivierung.“
Autor: Linus Peikenkamp
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 29. Januar 2025.