Geographie und Erdsystemwissenschaften – Die Zukunftsfächer
Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – Klimakrise und extreme Wetterereignisse, Energietransition und negative Treibhausgasemissionen, Migration und Verlust der Biodiversität sowie die wachsende Abhängigkeit von kritischen Rohstoffen – verlangen nicht nur nach technologischem Fortschritt, sondern auch nach einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation. Bildung spielt dabei eine Schlüsselrolle, und die Erdsystemwissenschaften sollen im Zentrum dieser Transformation stehen.
Ministerpräsident Kretschmann wird in der "Welt" mit einer Aussage zitiert, die den Geographieunterricht auf das Erlernen des Kartenlesens reduziert und dabei zu verkennen scheint, dass geowissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten entscheidend für eine nachhaltige Zukunft sind. Geographie ist das Zukunftsfach par excellence – umso unverständlicher, dass ausgerechnet dieses Fach herangezogen wird, um festgefahrenen Konservatismus in der Schule zu thematisieren. Grünen-Politikerin Maria Klein-Schmeink nuanciert diese Sichtweise, indem sie betont, dass es nicht um die Abschaffung von Geographie gehe, sondern darum, tradierte Inhalte kritisch zu hinterfragen und um zukunftsrelevante Kompetenzen zu erweitern. Geographie bleibt entscheidend, um globale Zusammenhänge zu verstehen. Diese Perspektive unterstreicht die Interdisziplinarität der Erdwissenschaften – von der Mineralogie bis zur Stadtgeographie –, die gemeinsam Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit liefern können.
Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Urban Mining. Statt kritische Mineralien durch das Eröffnen neuer Minen zu gewinnen, liegt der Fokus auf der gezielten Rückgewinnung wertvoller Rohstoffe aus bestehenden Bauwerken und Infrastruktur. Das Recycling von Baumaterialien wie Beton oder asbesthaltigen Brücken setzt nicht nur tiefgehendes Wissen über Materialkreisläufe voraus, sondern auch ein Verständnis für die geologische Zusammensetzung und die sozialen sowie ökologischen Auswirkungen globaler Lieferketten. Urban Mining ist damit ein Paradebeispiel für die Verknüpfung von Mineralogie, angewandter Geologie und Stadtgeographie – und verdeutlicht, wie praxisorientiert und relevant diese Disziplinen sind.
Wie soll Klimabildung gelingen, wenn Geographie marginalisiert wird? Rund 50% der schulischen Klimabildung finden laut dem Gutachten „Analyse zur Verankerung von Klimabildung in den formalen Lehrvorgaben für Schulen und Bildungseinrichtungen in Deutschland“ im Auftrag des Bundesumweltministeriums im Fach Geographie statt. Das Fach vermittelt Schlüsselkompetenzen, um zentrale Fragen der Gegenwart zu verstehen: Wie sollen Schüler*innen den Klimawandel begreifen, ohne Grundkenntnisse über die natürlichen Quellen und Senken von CO2 wie Photosynthese und Respiration zu haben? Wie sollen sie sich eine Meinung in der Stickstoffdebatte und zu den Protesten der Landwirte bilden, wenn sie nicht die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf Wasser- und Nährstoffkreisläufe begreifen? Oder wie können sie einschätzen, warum Gaspipelines durch die Ostsee jahrzehntelang die deutsche Politik dominiert haben? Geographie liefert genau diese Fähigkeiten.
Der Vorstoß von Ministerpräsident Kretschmann, eine Bildung zu fordern, die sich stärker an Zukunftskompetenzen orientiert, ist zwar richtig und wichtig. Doch wie setzen wir das um? Wir brauchen ein Bildungssystem, das Erdsystemwissenschaften und Geographie als zentrale Bestandteile integriert. Künstliche Intelligenz (KI) ist dabei ein Werkzeug, aber kein Selbstzweck. Mithilfe von KI und Data Science können wir riesige Datensätze analysieren, Klimamodelle präzisieren und Szenarien für eine nachhaltige Entwicklung entwickeln. Ein anschauliches Beispiel ist die Optimierung von Pumpspeicherkraftwerken: Wasser wird mit elektrischen Pumpen hinter Staudämme gepumpt, wenn Strom im Überfluss und somit günstig verfügbar ist, etwa bei viel Sonnenschein oder starkem Wind. Während Dunkelflauten wird das gespeicherte Wasser abgelassen, um grünen Strom zu erzeugen. Die effiziente Planung dieses Kreislaufs – von der Speicherung bis zur Stromproduktion – erfordert die Kombination von Data Science mit einem tiefen Verständnis für Meteorologie und Klimatologie. Aber damit KI und solche Technologien verantwortungsvoll eingesetzt werden können, braucht es eine breite naturwissenschaftliche Bildung. Nur so können wir sicherstellen, dass technologische Innovationen nicht von realen Gegebenheiten und Bedürfnissen entkoppelt werden.
Geowissenschaften und Geographie gehören in den Kernlehrplan – nicht als Wahlfächer, sondern als essenzielle Bestandteile des naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts. Schulen müssen zudem verstärkt projektbasiertes Lernen fördern, bei dem Schüler reale Probleme wie die Analyse von Klimadaten oder die Entwicklung nachhaltiger Energiekonzepte bearbeiten. Gleichzeitig braucht es eine bessere Ausbildung von Lehrkräften, damit diese die notwendigen Inhalte kompetent vermitteln können. Bildungspolitik darf nicht länger in alten Denkmustern verharren. Wir brauchen Mut zur Veränderung. Dies bedeutet nicht, bewährte Ansätze aufzugeben, sondern diese in einen zukunftsgerichteten Kontext zu stellen. Die Erdsystemwissenschaften und die Geographie können dabei als Leitdisziplinen dienen, um junge Menschen nicht nur mit Wissen auszustatten, sondern sie auch zu verantwortungsvollen Weltbürgern zu machen, die die Herausforderungen ihrer Zeit verstehen und gestalten können.
Unterzeichnet durch:
Jun.-Prof. Dr. David De Vleeschouwer | Erdsystemforschung |
Prof. Dr. Rainer Mehren | Didaktik der Geographie |
Prof. Dr. Sascha Buchholz | Tierökologie |
Prof. Dr. Andreas Stracke | Geochemie |
Prof. Dr. Stephan Klemme | Petrologie und Geochemie |
Prof. Dr. Tillmann Buttschardt | Angewandte Landschaftsökologie |
Prof. Dr. Ralph Thomas Becker | Paläontologie |
Prof. Dr. Norbert Hölzel | Biodiversität & Ökosystemforschung |
Prof. Dr. Klaus-Holger Knorr | Ökohydrologie & Stoffkreisläufe |
Prof. Dr. Carmen Sanchez-Valle | Mineralogie |
Prof. Dr. Ralf Hetzel | Geologie |
Prof. Dr. Ute Hamer | Bodenökologie & Landnutzung |
Prof. Dr. Christine Achten | Angewandte Geologie |
Jun.-Prof. Dr. Mana Gharun | Biosphere-Atmosphere Interaction |
Prof. Dr. Erik Scherer | Isotopengeochemie |
Prof. Dr. Iris Dzudzek | Kritische Stadtgeographie |
Prof. Dr. Hanna Meyer | Fernerkundung & räumliche Modellierung |
aus dem Fachbereich 14 Geowissenschaften – Universität Münster
Weitere Informationen
https://www.aktionsrat-bildung.de/fileadmin/Dokumente/Gutachten_pdfs/ARB-Kurzgutachten_WEB.pdf