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Münster (upm/bhe).
Ob die Handschrift Ibn Nubatahs schön ist, darüber ist sich das Projektteam aus Münster nicht einig. Aber sie ist individuell und wiedererkennbar.<address>© WWU - Thomas Bauer</address>
Ob die Handschrift Ibn Nubatahs schön ist, darüber ist sich das Projektteam aus Münster nicht einig. Aber sie ist individuell und wiedererkennbar.
© WWU - Thomas Bauer

Im Rausch der sprachlichen Schönheit

Am Institut für Arabistik und Islamwissenschaft entsteht eine wissenschaftliche Edition bedeutender Dichtkunst

Ein „Goldenes Zeitalter“ der arabischen Kultur? Von wegen – es gab mit Sicherheit mehrere. Davon ist Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bauer überzeugt. „Ich hatte schon lange den Verdacht, dass die bisher wenig beachtete Mamlukenzeit, die von 1250 bis 1518 reichte, lohnenswerte literarische Werke hervorgebracht haben muss.“ Als der Wissenschaftler vor zehn Jahren den „Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhielt, nahm er das Preisgeld als Anschub, um sich die Quellen aus dem Zeitraum von 1100 bis 1500 genauer anzuschauen. Sein Team bestellte Handschriften und Microfiche-Abzüge aus Archiven, wälzte Bibliothekskataloge und durchsuchte das Internet nach Digitalisaten. Daraus ist 2020 ein Langfristvorhaben geworden. Gerade hat die DFG die Förderung für die kommenden drei Jahre mit einer Summe von 1,7 Millionen Euro verlängert.

Die Fäden für das Projekt „Gesamtedition des Werkes von Ibn Nubatah al-Misri“ laufen bei Thomas Bauer und Prof. Dr. Syrinx von Hees zusammen. Im Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der WWU an der Schlaunstraße trifft sich ihr achtköpfiges Projektteam immer mittwochsnachmittags, um die Texte zu diskutieren. Dass dabei jeder seine eigenen Leseerfahrungen einbringt, ist unabdingbar. „Während andere Disziplinen jeweils mehrere Fachrichtungen haben, beispielsweise Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Politik, müssen Arabisten breiter aufgestellt sein.“ Die Editionsarbeit ähnelt anderen Philologien: Die Forscher unterstützen sich bei der Entzifferung der Handschriften, beraten sich gegenseitig in der Lexik und vergleichen verschiedene Textfassungen.

Außergewöhnlich ist die schiere Fülle der Quellen aus einer lange vernachlässigten Epoche. Denn anders als zur gleichen Zeit in Europa war das Schreiben nicht den Eliten bei Hofe oder in den Klöstern vorbehalten. Gerade erst hätten er und sein Team einen Text von einem einfachen Handwerker gelesen, einem Bogenmacher. „Der Mann hatte zwar Schwierigkeiten mit der Grammatik, aber sein Text ist lesenswert und frisch.“ Vom Schreiner bis zum Oberrichter oder Sultan hätte seinerzeit praktisch jeder geschrieben und gelesen, „Gedichte, kunstvoll verfasste Briefe in Reimprosa, ununterbrochen.“

Für uns ist es jetzt eine Chance, das Gesamtwerk eines der tonangebenden Intellektuellen seiner Zeit herauszugeben
Prof. Dr. Thomas Bauer

Bis auf wenige Ausnahmen ist nichts davon gedruckt, geschweige denn für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Texten aufbereitet. „Das war ein komplett neues Feld. Es gab viel mehr, als wir bewältigen konnten“, beschreibt Thomas Bauer den Beginn. Nachdem das Projektteam in der ersten Runde wahllos versucht habe, eine Karte der Literatur aus dem untersuchten Zeitraum zu erstellen, sei ein Name aufgefallen: Ibn Nubatah al-Misri, „eine Schlüsselfigur“. Der Ägypter, der von 1287 bis 1366 überwiegend in Damaskus lebte, galt in der arabischen Welt bis ins 19. Jahrhundert hinein als Klassiker. Weil der europäische Kolonialismus Arabern aber bestenfalls eine Vermittlerrolle antiken Wissens zugestand, geriet vieles aus dem Blick, die Mamlukenzeit wurde fortan als Epoche des kulturellen Niedergangs angesehen. „Leider haben die Ägypter und Syrer diese Abwertung schließlich selbst verinnerlicht“, bedauert der Islamwissenschaftler. „Für uns ist es jetzt eine Chance, das Gesamtwerk eines der tonangebenden Intellektuellen seiner Zeit herauszugeben.“

25 Handschriften stehen im Mittelpunkt der Edition, vor allem die Gedichtsammlung (Diwan), darunter relativ viele Autographe vom Verfasser selbst, dessen Handschrift individuell und wiedererkennbar ist. Eines Abends habe er kurz vor dem Schlafengehen noch in einer Lieferung aus dem Archiv geblättert, berichtet Thomas Bauer. Dabei habe er mit einem solchen Autographen einen überraschenden Fund gemacht; es war ein Glücksfund.

Prof. Dr. Thomas Bauer<address>© Natalie Kraneiß</address>
Prof. Dr. Thomas Bauer
© Natalie Kraneiß
Vom Liebesgedicht bis zur Ernennungsurkunde eines Festungskommandeurs sei in Nubatahs Werk alles dabei. „Die Texte sind auf den ersten Blick schwer zu verstehen, aber beim dritten Lesen kommt man in einen Rausch – wegen ihrer sprachlichen Schönheit.“ Ibn Nubatah habe mit Anfang 50 begonnen, in einer Staatskanzlei zu arbeiten. „Die Urkunden, die er dort verfasste, sind Kunstwerke. Überhaupt waren Dichtung und Prosa zu seiner Zeit kein ästhetischer Luxus, sondern elementar“, unterstreicht der Forscher. Das jährliche Nilhochwasser, diplomatische Schenkungen – alles, was wichtig war, sei in Verse gefasst worden. Diese heute zu dechiffrieren bringt auch Erkenntnisse über das Leben und die Innenwelt der Menschen vor 800 Jahren zutage. So entdeckte er kürzlich eine einst vor allem in Syrien weit verbreitete Sportart wieder, die heute vergessen sei. „Aktuell arbeite ich an einem Gedicht über die Vogeljagd als Wettkampfsport“, erläutert der Wissenschaftler. „Alle Bevölkerungsschichten nahmen daran teil.“ Das Regelwerk von „14 Vögel“ war kompliziert und von großer Raffinesse. „Die Leitlinien heutiger Sportverbände sind ein Witz dagegen.“ Die Teilnehmer hätten untereinander einen hohen Moralkodex befolgt und sich in einer eigenen Sondersprache verständigt.

„Wir neigen dazu, andere Kulturen zu unterschätzen“, findet Thomas Bauer. Niemand könne sich anmaßen, alles zu verstehen. Die wissenschaftliche Ausgabe des Werks Nubatahs soll künftig als verlässliche Grundlage für die Forschung dienen und dazu beitragen, mögliche Vorurteile auszuräumen.

 

Zur Person:

Ibn Nubatah al-Misri wurde 1287 in Kairo geboren und verbrachte den längsten Teil seines Lebens in Damaskus. Der führende Dichter seiner Zeit verfasste neben gut 2.000 Gedichten 30 Werke, die fast alle erhalten sind, aber nur zum Bruchteil in Editionen vorliegen. 1366 starb er in Kairo. Sein Werk geriet ab dem 19. Jahrhundert zunehmend in Vergessenheit, sowohl in der arabischen Welt als auch in Europa. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert seit 2020 mit 5,9 Millionen Euro ein auf zwölf Jahre angelegtes Langzeitvorhaben am Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der WWU, das die wichtigsten Werke Nubatahs in einer wissenschaftlichen Edition herausbringt.

 

Autorin: Brigitte Heeke

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 12. Juli 2023.

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