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Münster (upm)
Intelligente Materie wird aus einzelnen nanoskalierten, funktionalen Bausteinen zusammengesetzt. Zusammen agierend, besitzen sie intelligente Fähigkeiten.<address>© Corinna Kaspar</address>
Intelligente Materie wird aus einzelnen nanoskalierten, funktionalen Bausteinen zusammengesetzt. Zusammen agierend, besitzen sie intelligente Fähigkeiten.
© Corinna Kaspar

Der Aufstieg der intelligenten Materie

Interdisziplinäres Team gibt in "Nature" Einblicke in ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet

Können wir Materie intelligent machen? Zu dieser Frage forscht ein interdisziplinäres Team im Sonderforschungsbereich 1459 „Intelligente Materie: Von responsiven zu adaptiven Nanosystemen“. In einem aktuellen Beitrag in der Fachzeitschrift „Nature“ beschreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Münster und Twente stellvertretend für den SFB 1459, welche Möglichkeiten sich durch intelligente Materie auftun könnten. Auch in einem Gastbeitrag für die WWU geben Corinna Kaspar (Physik-Doktorandin und Erstautorin des Nature-Artikels) sowie Physiker Prof. Dr. Wolfram Pernice aus diesem Anlass Einblicke in ihre Forschung und deren Bedeutung.

Stellen Sie sich vor, der Pullover, den Sie tragen, würde sich aktiv Ihrem Empfinden anpassen. Das heißt, er würde Sie wärmen, wenn es Sie fröstele, aber Sie auch kühlen, wenn Sie schwitzend in der Sonne säßen – und das ganz ohne Ihr Zutun. Der Pullover müsste also einerseits lernen, Ihr Unwohlsein zu bemerken, und andererseits seine Eigenschaften ändern können, um diesem Zustand entgegenzuwirken. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt und wir können uns weitere, beliebig komplexe Funktionalitäten ausmalen wie schnelltrocknend oder bei einem Sturz stoßabfedernd. Doch wie lässt sich solch ein Pullover realisieren? Welche Energie benötigt er und woraus bezieht er sie? Es wird schnell klar, dass komplexe Berechnungsvorgänge und eine geeignete Energiequelle notwendig sind, um all diese Funktionen zu erfüllen.

Die Natur hingegen bringt täglich und scheinbar mühelos solch faszinierenden Funktionalitäten hervor. Ein Pendant zum Pullover ist beispielsweise das größte menschliche Organ, unsere Haut. Sie schützt uns vor allerhand Einflüssen aus unserer Umgebung wie Strahlung, Druck, Reibung und dem Eindringen von Krankheitserregern. Nach einer Verletzung kann sie sich sogar selbst heilen. Außerdem bildet sie einen Schutz vor dem Verlust von Wärme und ist gleichzeitig in der Lage, uns durch Ausscheiden von Schweiß zu kühlen.

Inspiration durch das menschliche Gehirn

Für besondere Faszination und Inspiration sorgt bei Forschern vor allem auch immer wieder das menschliche Gehirn, der Grundbaustein für unsere Intelligenz. Unzählige parallele Prozesse zwischen den etwa 100 Milliarden Neuronen im Gehirn führen zu einer enormen Rechenleistung – und das bei einem sehr geringen Energieverbrauch von nur etwa 20 Watt. Die massive Parallelverarbeitung begünstigt vor allem kognitive Fähigkeiten, in denen wir herkömmliche Computer weit übertreffen. Beispielsweise erkennen wir das bekannte Gesicht eines Freundes binnen Millisekunden, während ein Computer für ähnliche Aufgaben weitaus mehr Zeit benötigt. Von dieser Überlegenheit inspiriert, werden immer häufiger unkonventionelle Rechenparadigmen entwickelt, welche die Funktionsweise des Gehirns nachbilden, um künstliche, intelligente Systeme für kognitive Aufgaben zu verwirklichen.

Doch was ist eigentlich Intelligenz? Im psychologischen Sinne wird Intelligenz als die Fähigkeit verstanden, sich in einer sich ändernden Umgebung anzupassen und aus vergangenen Ereignissen zu lernen. Auf der Materialebene definieren wir Intelligenz ganz ähnlich. Synthetisch hergestellte Materie ist intelligent, wenn sie mit der Umgebung interagiert, Impulse empfängt und auf diese reagiert. Dabei kann die Materie Feedback verarbeiten, Informationen als Erfahrung speichern und aus Vergangenem lernen. Darüber, ob solch eine Materie eine Wahrnehmung besitzt, lässt sich streiten, für unsere Definition von Intelligenz benötigt sie sie jedoch nicht.

Intelligentes Verhalten von synthetischer Materie

Die zentrale Frage, die sich uns nun stellt, ist also: Wie kann man Intelligenz in synthetischer Materie realisieren und welche Bausteine sind dafür erforderlich? Dazu haben wir vier notwendige Schlüsselfunktionselemente herausgearbeitet, welche zusammenarbeiten müssen. Zunächst ist ein Sensorelement erforderlich, sodass die Materie Impulse und Informationen aus der Umgebung wahrnehmen sowie Feedbacksignale empfangen kann. Als Antwort auf externe Stimuli kann synthetische Materie ihre physikalischen Eigenschaften verändern, beispielsweise die Form oder die Festigkeit. Dazu ist ein Aktor notwendig. Empfangene Informationen werden als Wissen in einem Speicherelement gespeichert, sodass sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder abgerufen werden können. Dieses „Erinnerungsvermögen“ ist für einen Lernprozess unabdingbar. Zuletzt müssen die drei beschriebenen Elemente miteinander kommunizieren können, wozu ein Netzwerk aus Signalwegen notwendig ist.

Vier Schlüsselfunktionselemente müssen zusammenarbeiten

Alle vier Schlüsselfunktionselemente müssen zusammenarbeiten, um intelligente Fähigkeiten zu realisieren. Nun stellen wir uns vor, dass diese verknüpften Bauteile sich auf den Nanobereich zusammenschrumpfen lassen, sodass sie als eine Einheit – oder Materie – gesehen werden können. Dies ermöglicht die Integration in einem System, wodurch sich Rechenvorgänge in der Materie selbst implementieren lassen. Dabei müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass es eine zentrale Recheneinheit gibt, die alles steuert, wie wir es zum Beispiel von konventionellen Computern oder auch Robotern kennen. Vielmehr wird die Materie selbst genutzt, um dezentral zu rechnen. Dadurch können – ähnlich wie im menschlichen Gehirn – unzählige Prozesse parallel ablaufen, was eine enorme Datenverarbeitung ermöglicht, wie sie beispielsweise für unseren „intelligenten Pullover“ notwendig ist.

 

Originalveröffentlichung

Corinna Kaspar, Bart Jan Ravoo, Wilfred G. van der Wiel, Seraphine V. Wegner and Wolfram H. P. Pernice (2021): The Rise of Intelligent Matter. Nature 594, 345–355 (2021). DOI: 10.1038/s41586-021-03453-y

Sonderforschungsbereich 1459

Um intelligente Materie herzustellen, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aus den Bereichen der Physik, Chemie, Materialwissenschaften und Biologie erforderlich. 26 Arbeitsgruppen der WWU Münster, des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin und der Universität Twente arbeiten im Sonderforschungsbereich 1459 zusammen, um dieses Vorhaben zu realisieren. Dabei werden verschiedene Materialklassen untersucht: Moleküle, weiche Materialien wie Polymere und Festkörper. Außerdem werden neue chemische und physikalische Konzepte erarbeitet. Ziel ist es, völlig neue Möglichkeiten zu erschließen und Materie intelligent zu machen.

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