"Nachhaltigkeit ist eine Notwendigkeit"
Klimakrise – Mobilität – Konsum: Seit einigen Jahren spielt Nachhaltigkeit in der Gesellschaft und Politik eine immer wichtigere Rolle. Auch in der Wissenschaft wird das Thema interdisziplinär untersucht. Kathrin Nolte sprach mit Prof. Doris Fuchs, Inhaberin des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung an der WWU, und mit Prof. Dr. Matthias Grundmann, Inhaber des Lehrstuhls für Sozialisation, Bildung, Gemeinschaftsforschung an der WWU, über die Bedeutung des Begriffs und die Herausforderungen, nicht auf Kosten zukünftiger Generationen zu leben.
Nachhaltigkeit ist ein häufig verwendeter Begriff, der in vielen unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. Was verstehen Sie als Politikwissenschaftlerin und Soziologe darunter?
Doris Fuchs: Nachhaltigkeit kann man auf unterschiedliche Weise definieren. Deshalb sage ich meinen Studierenden immer, dass sie genau hinhören müssen, was die- oder derjenige damit meint und was diese spezifische Definition für Implikationen hat. Der Begriff wird außerdem häufig strategisch verwendet. Ich verstehe unter Nachhaltigkeit die Möglichkeit eines guten Lebens für alle, die heute und in Zukunft leben. Ich verbinde also die Gedanken von planetaren Grenzen mit den Gedanken von Gerechtigkeit. Mir ist bewusst, dass das eine Minimaldefinition von Nachhaltigkeit ist, die sich auf den Menschen bezieht und Tiere sowie Pflanzen nicht berücksichtigt. Andere würden sagen, dass diese Aspekte auch beachtet werden müssen. An dieser Stelle komme ich jedoch bislang an meine Grenzen, was Definition und Umsetzung betriff. Denn ich neige beispielsweise dazu, Mücken zu jagen, die mich nachts nicht schlafen lassen.
Matthias Grundmann: Für mich gibt es ebenfalls eine je nach Disziplin spezifische und vielfältige Definition. Als Soziologe geht es mir vor allem um das Zusammenleben von Menschen und das ,Nachhalten‘, also das nicht verbrauchen. Damit meine ich nicht nur den Erhalt von Ressourcen, sondern auch von Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Mich beschäftigen folgende Fragen: Wie gehen wir miteinander um? Wie gehen wir mit der Welt um, auf der wir leben?
Welchen Stellenwert nimmt das Thema in unserer Gesellschaft ein?
Matthias Grundmann: Angesichts der Tatsache, dass wir seit geraumer Zeit besonders in den westlichen Gesellschaften sehr viel konsumieren, versteht sich Nachhaltigkeit auch als Kritik an unserem Konsum. Denn Konsum bedeutet übermäßigen Verbrauch. Aus diesem Verhalten der Menschen resultiert, dass wir uns nun mit Dingen wie dem Klimawandel beschäftigen müssen. Die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit ist also eine Notwendigkeit. Bereits in alten Kulturen ist der Erhalt von Lebensräumen und Ressourcen ein zentrales Thema. Dass wir diesen Weg verlassen haben, ist eine historische Kehrtwende, die problematisch ist.
Doris Fuchs: Das sehe ich genauso. Unsere Konsumkultur und die Art und Weise, wie wir unser Wirtschaftssystem aufgebaut haben, spielen eine zentrale Rolle. Es ist also eine Notwendigkeit und kein Trendthema. Mein Eindruck ist, dass das zunehmend auch in der Bevölkerung angekommen ist. Die Bewegung ,Fridays for Future‘ ist ein gutes Beispiel dafür. Es hat sich wirklich etwas getan. Gleichzeitig zeigt uns die Natur immer sichtbarer und deutlicher, was passiert, wenn das Eis an den Polkappen schmilzt oder wenn die Permafrostböden in Sibirien tauen. Wir bekommen die Konsequenzen in vielen Formen vor Augen geführt. Der Klimawandel ist aufgrund der Corona-Krise zurzeit etwas in den Hintergrund geraten. Aber wir dürfen nicht den Fehler begehen, nach der Pandemie so weiterzumachen wie zuvor.
Matthias Grundmann: Hinzu kommt aus meiner Sicht, dass die Corona-Pandemie selbst ein Ergebnis einer nicht nachhaltigen Lebensführung der Menschen ist. Die Flächenreduzierung und der Rückgang der Artenvielfalt begünstigen den zoonotischen Prozess der Infektionskrankheit. Deshalb betrifft uns Nachhaltigkeit existenziell.
Wie kann es gelingen, ein größeres Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schaffen?
Doris Fuchs: Mir scheint, dass das Bewusstsein in den vergangenen Jahren massiv gestiegen ist. Man kann es natürlich weiter fördern, indem wir klar kommunizieren. Das betrifft die Politik, aber auch die Wissenschaft. Nachhaltigkeitswissenschaftler aus den Sozial- und Naturwissenschaften müssen zu Wort kommen und Gehör finden. Dazu gehören zum Beispiel auch die Klimaforscher und Landschaftsökologen unserer Universität, die klar beschreiben können, was im Ökosystem passiert.
Matthias Grundmann: Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit ist meiner Ansicht nach vorhanden. Das sieht man schon daran, dass selbst Kleinkinder nicht einfach alles blind aufbrauchen, was ihnen vorgesetzt wird. Das Bewusstsein für den Erhalt von etwas, was uns etwas wert ist, tragen wir alle in uns. Was hindert uns also daran, nachhaltig zu leben?
Doris Fuchs: Gleichzeitig sind wir alle gut darin, wegzuschauen, wenn wir etwas nicht sehen wollen. Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit ist zwar in der Gesellschaft vorhanden, aber wir schaffen es immer noch zu oft, den Kopf in eine andere Richtung zu drehen, wenn wir uns mit der Frage, was wir eigentlich ändern müssten, gerade nicht beschäftigen wollen.
Welchen Einfluss hat jeder Einzelne auf eine nachhaltige Entwicklung?
Doris Fuchs: Der einzelne Mensch kann vieles tun. Ich sage meinen Studierenden, dass es das Wichtigste ist, sich politisch und gesellschaftlich einzubringen. Denn wir müssen die Strukturen verändern. Das ist wichtiger, als jede kleine Konsumentscheidung zu überdenken. Aber natürlich sollte auch jeder für sich entscheiden, ob er in ein Flugzeug steigt, ob er Auto fährt oder ob er Fleisch isst. Bei diesen Entscheidungen ist der Einzelne in der Verantwortung.
Matthias Grundmann: Nachhaltigkeit ist keine Frage des Individuums. Es ist eine Frage der Menschheit, des Erhalts menschlichen Lebens auf der Erde. Deshalb ist Nachhaltigkeit eine Frage von sozialen Praktiken des Erhalts und selbstverständlich auch von politischen Prozessen, mit denen das komplexe Thema behandelt werden kann.
Doris Fuchs: Außerdem ist es eine Frage der ökonomischen Strukturen. Der Verbraucher wird jeden Tag mit Hunderten Werbeslogans zugeschmissen. Dabei sollten wir eigentlich alle weniger Produkte kaufen. Das wird den Käufern aber nicht gesagt.
Welchen Beitrag kann die Wissenschaft, also auch die Universität Münster, für ein nachhaltigeres Leben leisten?
Matthias Grundmann: Wir als Wissenschaftler sollten uns zum Beispiel darüber austauschen, wie wir in den unterschiedlichen Disziplinen das Thema Nachhaltigkeit bearbeiten. Wir sollten es als interdisziplinäres Zusammenspiel betrachten und nicht als Konkurrenz zwischen verschiedenen Interessensphären. Diese Praxis der Perspektivenvielfalt verfolgen wir an der Universität Münster beispielsweise im Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung, in dem wir nach dieser Maxime zusammenarbeiten. Auf diese Weise wird das Wissen über Nachhaltigkeit geschärft.
Doris Fuchs: Richtig, das eine ist die inhaltliche Beschäftigung mit Nachhaltigkeit in der Forschung. Darüber hinaus müssen sich alle Wissenschaftler und Beschäftigte der WWU fragen: Was heißt nachhaltige Forschung? Was heißt nachhaltige Lehre? Wie sieht eine nachhaltige Universität aus? Nachhaltige Forschung bedeutet mehr, als Forschungsprojekte zu diesem Thema einzuwerben. In der Lehre gilt es, zu diesem Thema mehr als Veranstaltungen anzubieten, in denen Nachhaltigkeit vorkommt. Wir müssen uns insgesamt anschauen, wie die Systeme ,Forschung‘ und ,Hochschullehre‘ funktionieren und reflektieren, was wir als Gesamtorganisation ändern können. Dazu gibt es bereits Leitlinien zur nachhaltigen Hochschule und Best-Practice-Beispiele aus dem In- und Ausland. Wir müssen das Rad also nicht neu erfinden. Als Universität sollten wir über den eigenen Tellerrand hinausschauen und unser Alltagsgeschäft kritisch betrachten und fragen, was bei uns nicht nachhaltig ist.
Wie lauten Ihre Empfehlungen, um realistische und erreichbare Nachhaltigkeitsziele zu formulieren?
Doris Fuchs: Ich halte das für die falsche Frage. Wenn wir uns fragen, was realistische und erreichbare Schritte sind, dann haben wir das Problem nicht verstanden. Wir müssen vom Ziel ausgehen. Wir müssen als Gesellschaft unter anderem so schnell wie möglich Klimaneutralität erreichen. Wenn wir ein solches Ziel vor Augen haben, müssen wir uns wiederum fragen, welche Schritte notwendig sind, um es zu erreichen und wie wir den Prozess sozial gerecht gestalten können. Aus meiner Sicht ist die Frage nach ,realistischen‘ Nachhaltigkeitszielen in den vergangenen 40 Jahren dafür genutzt worden, echten Wandel zu verhindern.
Matthias Grundmann: Das kann ich nur unterstreichen. Das Ziel ist klar: Wir wollen unsere Existenzbedingungen erhalten. Insofern geht es eher darum, herauszuarbeiten, was uns dabei im Weg steht. Die Fokussierung auf Einzelziele hilft uns nicht weiter. Stattdessen sollte es um das große Ganze gehen.
Dieses Interview stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 27. Januar 2021.