|
Münster (upm/jah)
Die Überproduktion in der Lebensmittelindustrie führt dazu, dass immer mehr Nahrungsmittel weggeworfen werden müssen.<address>© Thomas Le on Unsplash</address>
Die Überproduktion in der Lebensmittelindustrie führt dazu, dass immer mehr Nahrungsmittel weggeworfen werden müssen.
© Thomas Le on Unsplash

Lebensmittel für die Tonne

Politikwissenschaftler Tobias Gumbert analysiert Verantwortung für Nahrungsmittelverschwendung

Jeder Bundesbürger verschwendet laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) etwa 75 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr. Für eine Stadt wie Münster mit ihren rund 310.000 Einwohnern bedeutet das: Mehr als 26.000 Tonnen Lebensmittel landen im Müll – Jahr für Jahr. Aber müssen sich die Verbraucher beim Thema Lebensmittelverschwendung wirklich nur an die eigene Nase fassen? Dr. Tobias Gumbert, der dieses Thema in seiner Dissertation am Institut für Politikwissenschaft der WWU untersucht hat, wünscht sich „eine ganzheitlichere Betrachtung des Nahrungsmittelsystems“. Er plädiert unter anderem dafür, Gesetze und Anreize zu schaffen, die garantieren, dass überschüssige Lebensmittel zuerst an Menschen abgegeben werden, bevor sie als Brennstoff für Biogasanlagen oder Tierfutter enden, und so feste Vorsorgeprinzipien gegen Verschwendung zu etablieren.

„In Deutschland appelliert die Bundesregierung beim Thema Lebensmittelverschwendung häufig an die Freiwilligkeit und die persönliche Verantwortung beispielsweise von privaten Haushalten oder einzelnen Händlern. Im Gegensatz dazu gibt es keine Investitionen in Präventionsmaßnahmen, die etwa bereits bei den Landwirten ansetzen“, kritisiert der Politikwissenschaftler. Das BMEL betont auf Anfrage der wissen|leben-Redaktion, dass Lebensmittelverschwendung zwar eine „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ sei, es sieht die Lösung aber vor allem in „sektorspezifischen Maßnahmen“ und Aufklärungskampagnen für Bürger. Derartige Einzelmaßnahmen könnten das Verschwendungsproblem global jedoch verschärfen, meint Tobias Gumbert. „Wenn Konsumenten weniger Lebensmittel wegwerfen und damit verantwortungsvoll handeln, während Handelsnormen oder das Wachstum des Nahrungsmittelangebots als Gründe für die steigende Verschwendung kaum beachtet werden, verschlimmert sich die Situation weiter“, erklärt er.

Auch der Verein Slow Food Deutschland sieht vor allem in steigenden Lebensmittelmassen ein Problem. „Überproduktion ist in der Lebensmittelindustrie fest programmiert. Landwirte müssen bis zu 30 Prozent mehr pflanzen, um trotz Ertragsschwankungen die mit dem Handel vereinbarten Mengen liefern zu können“, teilt der Verein mit. Umso wichtiger sei es, dass die Politik „am System selbst“ etwas ändere. Auch Slow Food kritisiert die geplanten Einzelmaßnahmen, mit denen die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbieren will. „Durch die Analyse von Verantwortungsbeziehungen lässt sich gut zeigen, dass wir die Ursachen für Lebensmittelverschwendung meistens vom einzelnen Verbraucher aus anstatt strukturell betrachten“, urteilt auch Prof. Dr. Doris Fuchs, Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung an der WWU.

Tobias Gumbert spricht sich deswegen dafür aus, lokale Initiativen politisch zu unterstützen. „Durch das Teilen von Nahrungsmitteln und gemeinschaftliche Strategien entstehen regionale Kreisläufe von der Produktion bis zum Verzehr und weitere Impulse, das Nahrungsmittelsystem insgesamt nachhaltiger, sozialer und gerechter zu gestalten, und nicht nur effizienter“, erklärt er. „Doch dafür bedarf es auch der stärkeren Beteiligung von Bürgern, insbesondere in ihrer politischen Rolle und nicht nur als Konsumenten.“ Münster sei in vielerlei Hinsicht ein gutes Beispiel für diese lokale Verantwortung, berichtet der Politikwissenschaftler. Der Verein „Stop Food Waste for Peace“ setzte beispielsweise 2017 ein Zeichen gegen Nahrungsmittelverschwendung, als Mitglieder und Freiwillige im münsterschen Rathausinnenhof 10.000 Personen eine Suppe spendierten, die ausschließlich aus geretteten Nahrungsmitteln bestand. „Solche lokalen Initiativen können sich untereinander und mit weiteren wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren vernetzen, etwa in Form eines Ernährungsrates, um dadurch Verantwortung gemeinschaftlich und politisch zu organisieren“, erklärt Tobias Gumbert. Auch dafür sei Münster ein gutes Beispiel – ein Ernährungsrat befindet sich bereits in Gründung.

Autorin: Jana Haack

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 17. Juni 2020.

Links zu dieser Meldung