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Münster (upm)
Der Turm an der Johannisstraße ist weithin sichtbar, auf eine Sternwarte aber deutet nichts mehr hin.© WWU - MünsterView
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Himmelsleiter und 360-Grad-Blick über Münster

Teil 2 der Serie über besondere Gebäude an der WWU: Im Englischen Seminar ist eine alte Sternwarte beheimatet

Um es vorwegzunehmen: In dieser Geschichte geht es nicht um die bekannte „Alte Sternwarte“ am Horstmarer Landweg in Gievenbeck, sondern um die noch ältere Sternwarte an der Johannisstraße nahe des Aegidiimarkts. Dabei handelt es sich um das Dachgeschoss des Englischen Seminars, das vor mehr als 100 Jahren entstand, aber nur wenige Jahre dem astronomischen Blick in den Himmel diente. Konkret bis zum Zweiten Weltkrieg, in dem das zweiteilige, die Sternwarte umschließende Gebäude aus „Hörsaaltrakt und Seminarbauteil“ von Bomben getroffen wurde. Die Sternwarte und ihre „Instrumente, Atlanten, Sternkarten und ein Teil der an und für sich nur kleinen Bibliothek“ wurden durch Luftangriffe völlig vernichtet. Dieses „wenig Tröstliche“ schrieb Prof. Dr. Johannes Hellerich, ab 1949 Leiter des „Astronomischen Instituts Münster“, laut eines überlieferten Briefentwurfs.

Nach dem Krieg diente das wiederaufgebaute Gebäude inklusive der zumindest äußerlich instandgesetzten Sternwarte als Seminar-, Experimentier- und Hörsaalgebäude. Als die damals neue Sternwarte in Gievenbeck Ende der 1960er-Jahre fertiggestellt war, verkam die in der Innenstadt nach und nach zu einer Art Abstellraum. Lediglich als Gewächshaus leistete die Sternwarte vielen Pflanzen über Jahre gute (Winter-)Dienste. 1997 schließlich fand das bizarre Refugium mit dem höchsten und kleinsten Hörsaal der WWU mit sechs bis acht Sitzplätzen ihre vermutlich letzte Bestimmung als professorales City-Büro von Thomas Hoeren. Als Leiter der zivilrechtlichen Abteilung des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht sitzt er eigentlich am Leonardo-Campus. Den Turm mit dem „schönsten Blick über Münster“ hatte der Rechtswissenschaftler im Studium in den 1980er-Jahren entdeckt, als er nach einer Vorlesung im Audimax aus Neugier weiter hochstieg. Ausschlaggebend für das persönliche Kleinod war später sein Geschick in Bleibeverhandlungen. Der Gebäudekomplex heißt im Volksmund heute einfach „Audimax“ nach dem einst mit 500 Plätzen größten WWU-Hörsaal im Inneren und manchmal kurz „Sternwarte“.

Ursprünglich wurde die Sternwarte 1913 als Teil des „Neuen Hörsaal- und Seminargebäudes“ fertiggestellt, ein baulicher Meilenstein für die 1902 neu gegründete Universität. In einer Veröffentlichung des Universitätsarchivs zur Baugeschichte der WWU schreibt Autor Jörg Niemer zur Geburtsstunde der Sternwarte, dem „polygonalen Turm“ als Scharnier zwischen den Gebäuden: „Es handelt sich dabei um eine über einem Laufkranz drehbare Halbkugel.“ Mit der Firma Zeiss/Jena sei ein Vertrag geschlossen worden über eine „bewegliche Sternwartenkuppel mit Spaltschieber in betriebsfertiger Lieferung“.

An dieses ursprüngliche Aussehen oder die Nutzung als Sternwarte kann sich heute niemand mehr erinnern. Nur Dr. Renate Budell, die 1985 ihr Diplom als Astrophysikerin am früheren Astronomischen Institut machte und heute noch an der WWU arbeitet, erinnert sich vage an die Kuppel im Zentrum Münsters. „Als ich studierte“, sagt die 61-Jährige, „war die Astronomie schon im Physik-Institut, der IG 1, integriert, aber wir hatten noch einen Schlüssel zur Sternwarte. Einmal war ich oben, aber es war nur noch ein leerer Raum.“ Eine astronomische Beobachtungsstation hätte ohnehin keinen Sinn mehr gemacht. Ein Fachartikel von 1973 über die Astronomie an der WWU lieferte die schlüssige Begründung: die „Stadtbeleuchtung – und mit ihr die Erhellung des Himmelsgrundes“.

Eine Idee von der Vergangenheit kommt einem Gast beim Aufstieg in das 24 Meter hohe Treppenhaus zusammen mit Thomas Hoeren erst, als die eiserne Wendeltreppe auftaucht. Über sie gelangt man in die erste Etage des aufgesetzten Turms. Für ihn haben nur noch die Hausmeister und der Jurist einen Schlüssel. Oben angekommen wird es fast heimelig. „Ich habe die Hausmeister damals bekniet, die Bänke wie einst in die Rundungen einzubauen.“ Zum Mobiliar, das der Medienrechtler im Keller wiedergefunden und auf eigene Kosten instandgesetzt hat, gehören passende und abgerundete Tische, ein Stehpult, eine Wandtafel, ein Foucaultsches Pendel – alles vom Beginn des 20. Jahrhunderts – und eine Schreibtischlampe. Bei ihr lässt ein Sicherheitsaufkleber auf ihr hohes Alter schließen: „Prüfung nicht bestanden“. Für einen Besuch des zweiten Stockwerks sollte man schwindelfrei sein. Es ist nur über eine leiterartige steile Treppe zu erreichen. Der fantastische 360-Grad-Blick vom Balkon, der die einstige Sternwarte komplett umgibt, ist die Belohnung für den Aufstieg.

Autorin: Juliane Albrecht

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 17. Juni 2020.

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