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Münster (upm/jah)
In den nächsten sechs Monaten leitet Deutschland die Sitzungen und Tagungen des Rates der Europäischen Union.<address>© Joshua Fuller on Unsplash</address>
In den nächsten sechs Monaten leitet Deutschland die Sitzungen und Tagungen des Rates der Europäischen Union.
© Joshua Fuller on Unsplash

"Deutschland ist prädestiniert, Kompromisse voranzubringen"

Politikwissenschaftler Oliver Treib bewertet die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands

Am 1. Juli hat Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union (EU) übernommen. Prof. Dr. Oliver Treib forscht am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zu politischen Konfliktstrukturen in der EU. Im Gespräch mit Jana Haack bewertet er die Herausforderungen und Chancen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Was sind die großen Themen, mit denen Deutschland sich voraussichtlich beschäftigen muss?

Ich sehe zwei wesentliche Themen, die beide ausgesprochen haarig sind: die zukünftigen Finanzen der EU und den Brexit. Bei den Finanzen geht es um zwei miteinander verknüpfte Pakete. Zum einen um das Corona-Hilfspaket, mit dem die EU den besonders hart von der Pandemie betroffenen Ländern beim Wiederaufbau ihrer Wirtschaft helfen will. Zum anderen um den  mehrjährigen Finanzrahmen der EU, also die großen Leitlinien des EU-Haushalts für den Zeitraum 2021 bis 2027. Beim Brexit geht es darum, bis Ende des Jahres mit den Briten einen Kompromiss über die zukünftigen Beziehungen mit der EU zu finden. Der Brexit ist zwar rechtlich vollzogen, aber bis Ende des Jahres gilt eine Übergangsfrist, in der sich faktisch wenig ändert. Wenn in den nächsten Monaten keine Abkommen zwischen der EU und Großbritannien geschlossen werden, fällt Großbritannien zum Ende des Jahres ohne Abfederung aus dem wirtschaftlichen Verbund mit den 27 EU-Mitgliedsstaaten. Das hätte wirtschaftlich katastrophale Folgen vor allem für die Briten, aber auch für ein Land wie Deutschland, dessen gesamtes Wirtschaftssystem auf Export ausgerichtet ist.

Prof. Dr. Oliver Treib<address>© WWU - Peter Leßmann</address>
Prof. Dr. Oliver Treib
© WWU - Peter Leßmann
Muss sich Deutschland als wirtschaftsstärkstes EU-Land gefallen lassen, dass die Erwartungen an seine Präsidentschaft besonders groß sind - oder wird nicht vielmehr die Rolle der Ratspräsidentschaft überschätzt?

Immer, wenn ein großes Land die Ratspräsidentschaft übernimmt, sind die Erwartungen groß. Dabei hat die Präsidentschaft eigentlich formell wenig Befugnisse. Früher führte das Land, das die halbjährlich rotierende Präsidentschaft innehatte, sowohl den Vorsitz im Rat der EU unter den Fachministerinnen und -ministern als auch im Europäischen Rat unter den Staats- und Regierungschefs. Seit den Reformen des Lissaboner Vertrags gibt es allerdings einen permanenten Präsidenten des Europäischen Rates, sodass die EU-Ratspräsidentschaft nur noch den Vorsitz unter den Fachministern führt. Faktisch wirkt die frühere institutionelle Tradition aber immer noch nach, sodass der Präsidentschaft auch unter den mächtigen Staats- und Regierungschefs eine herausgehobene Rolle zukommt. Entscheidend wird sein, ob Deutschland es schafft, die Rolle einer vermittelnden Instanz erfolgreich umzusetzen, indem es Kompromissvorschläge macht, um so nach und nach zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung zu kommen.

Kann Deutschland diese Aufgabe gelingen?

Der Vorteil ist, dass Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten Interessen verfolgt hat, die es geradezu dazu prädestinieren, Kompromisse zwischen den EU-Regierungen zu finden. Grob gesagt lassen sich bei den wichtigen wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen in der EU drei große Lager unter den Ländern ausmachen: die sparsamen, auf wirtschaftliche Effizienz ausgerichteten Nordländer, die auf EU-Gelder angewiesenen, mit vielfältigen historisch gewachsenen Strukturproblemen kämpfenden Südländer und die neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa, die ähnlich wie die Südeuropäer stark auf Finanzhilfen aus dem EU-Haushalt schielen und ansonsten in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung noch immer dem Rest hinterherhinken. Deutschland steht zwischen diesen drei Gruppen, weshalb ihm häufig eine Scharnierfunktion zukommt. Als größter Nettozahler der EU neigt es der Koalition der sparsameren Nordländer zu, hat aber so starke Exportinteressen, dass es im Zweifelsfall immer wieder bereit ist, finanzielle Konzessionen zu machen, um große europäische Projekte, die der deutschen Exportwirtschaft zugutekommen, nicht zu gefährden. Insofern ist Deutschland prädestiniert, Kompromisse voranzubringen.

Ergeben sich für Deutschland durch seine Scharnierfunktion Chancen in der aktuellen Situation?

Dadurch, dass die deutsche Bundesregierung stets die Interessen der deutschen Exportwirtschaft im Blick hat, wenn es um Europa geht, glaube ich, dass die deutsche Präsidentschaft am ehesten in der Lage sein wird, einen Kompromiss zu den beiden großen Finanzpaketen zu finden. Während die selbsternannten „Frugal Four“, die vier sparsamen Länder Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden, strikt auf Haushaltsdisziplin pochen und etwa beim Corona-Hilfspaket rückzahlbare Kredite fordern, hat sich Bundeskanzlerin Angela Merkel schon vor einer Weile der Position Frankreichs angenähert. Sie befürwortet mittlerweile ein Modell, das ein sehr viel größeres Volumen an echten Haushaltszuschüssen für die besonders betroffenen Länder im Süden Europas vorsieht. Das hat wenig mit Samaritertum zu tun, sondern mit handfesten wirtschaftlichen Interessen. Wenn halb Europa wirtschaftlich am Boden liegt, laufen die Geschäfte mit deutschen Autos eben nicht so gut wie wenn die Wirtschaft auch im Süden Europas floriert. Als Nebeneffekt könnte so ein ehrgeiziges europäisches Hilfspaket zur Bewältigung der Corona-Folgen unter deutscher Präsidentschaft Gestalt annehmen. Das wäre natürlich ein Erfolg für Deutschlands Ansehen in Europa und der Welt - und würde am Ende doch ein wichtiges Signal der europäischen Solidarität mit den Ländern aussenden, die von der Krise besonders gebeutelt wurden.

Der Präsident des europäischen Parlaments, David Sassoli, äußerte im Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Erwartung, dass die Bundesregierung dafür sorgt, dass die EU moderner wird und geeint auftritt. Kann die Bundesregierung dieser Erwartung gerecht werden?

Eine moderne EU kann je nach politischer Ausrichtung unterschiedlich verstanden werden. Wenn man darunter eine stärker auf den Ausgleich wirtschaftlicher Disparitäten ausgerichtete und an Prinzipien der Nachhaltigkeit orientierte Politik der EU versteht, dann könnte ein unter deutscher Vermittlung vielleicht erzielbarer Kompromiss beim Corona-Hilfspaket und beim langjährigen Finanzrahmen dazu führen, dass die EU ihre Gelder für etwas ,modernere' Anliegen ausgibt als bisher. Aber ob die einseitige Exportorientierung Deutschlands und die staatlichen Hilfen, die es seiner alles andere als klimafreundlichen Autoindustrie zukommen lässt, zu mehr europäischer Solidarität und ökologischer Nachhaltigkeit führen, muss bezweifelt werden. Insofern kann es vielleicht in den kommenden Monaten kleine europäische Etappensiege geben – aber auch und gerade in Deutschland wäre ein grundsätzlicheres Umdenken nötig, um das Wirtschaftsmodell wirklich zu ,modernisieren'.

Und wie schätzen Sie David Sassolis Wunsch nach mehr Einigkeit in der EU ein?

Diesen Wunsch hört man ständig, wenn es um die EU geht. Gebetsmühlenartig wird wiederholt, dass die EU enorm zerstritten sei, und endlich zu größerer Einigkeit finden müsse. Das ist jedoch meiner Meinung nach der falsche Maßstab. Denn in der Politik geht es nicht um Einigkeit, sondern vielmehr um unterschiedliche Interessen und das Finden von tragfähigen Kompromissen, die niemals alle glücklich machen, aber im Idealfall so zwischen den widerstreitenden Interessen vermitteln, dass alle damit leben können. Die EU ist geradezu die Quintessenz dieser Idee, mit Interessensgegensätzen, die in einer pluralen Welt mit höchst unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen völlig normal sind, produktiv und zum gegenseitigen Vorteil umzugehen. Darum geht es in der EU – nicht um eine völlig unrealistische, dem Wesen des Politischen nicht angemessene Vorstellung von Harmonie.

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