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Münster (upm)

Annehmen, was nicht zu ändern ist - handeln, wo sich etwas verändern lässt

Gastbeitrag von Prof. Dr. Monika Bobbert

Prof. Dr. Monika Bobbert<address>© privat</address>
Prof. Dr. Monika Bobbert
© privat

In Bezug auf die Behandlung einer Coronavirus-Infektion lassen sich aus ethischer Sicht folgende Eckpunkte – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – nennen:

1) Ein/e Arzt/Ärztin ist aufgrund der moralischen wie rechtlichen Norm, das Leben Kranker und Verletzter zu retten, verpflichtet, jeden bedürftigen Corona-Patienten intensivmedizinisch zu behandeln.

2) Reichen die Mittel nicht aus, um allen Kranken zu helfen, sind institutionelle Wege zu suchen, sodass dringliche Kranke behandelt werden können. Daher ist die Organisation der Umverteilung dringlicher Patienten zu Krankenhäusern, die noch freie Intensivbetten haben, aus ethischer und rechtlicher Sicht geschuldet. Die derzeitige Einrichtung einer Plattform, die einen Überblick über die Krankenhauskapazitäten bietet, ist eine unverzichtbare Strukturmaßnahme. Vice versa hat ein Krankenhaus die Verantwortung, Patienten aus anderen Regionen aufzunehmen, wenn es selbst noch nicht ausgelastet ist und sich eine vollständige Auslastung epidemiologisch noch nicht unmittelbar ankündigt.

3) Passive Sterbehilfe darf nicht ausgeweitet, gleichwohl aber „wie üblich“ reflektiert und praktiziert werden: Es sollte eine Zusammenschau ethisch relevanter Aspekte einer rechtfertigbaren Behandlungs-Begrenzung bei schwerstkranken Patienten erfolgen, deren Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit aussichtslos ist. Zudem kann es Fälle geben, in denen die Covid-19-Erkrankung zu einer unheilbaren, weit fortgeschrittenen Erkrankung/Multimorbidität noch hinzutritt. Ärzte haben in Bezug auf die passive Sterbehilfe einen gewissen, jedoch eng gefassten Beurteilungsspielraum, weil selbst ungünstige Prognosen eine Restunsicherheit beinhalten.

4) Patienten, die eine Intensivbehandlung erfahren und/oder an ein Beatmungsgerät angeschlossen sind, darf die Behandlung, sofern eine realistische Chance auf Rettung besteht, nicht entzogen werden, um eine andere Person zu retten. Denn dies wäre ein aktives Eingreifen in einen rettenden Kausalverlauf. Die Behandlung steht dem Betroffenen, nachdem sie realisiert werden konnte, zu. Rechtlich gesprochen ist das Teilhaberecht mit der Zuteilung der Behandlung zu einem Vollrecht geworden, das nicht beeinträchtigt werden darf.

5) Aus ethischer und rechtlicher Sicht sind in der Corona-Krise das Diskriminierungsverbot und das moralische Recht beziehungsweise das Grundrecht auf Gleichbehandlung zentral – letzteres im Sinne einer gleichen Chance auf Behandlung. Es muss also auch im Krisenfall tabu sein, nach Alter, Behinderung, Ethnie oder sozialem Status intensivmedizinische Behandlungen zu verteilen.

6) Es könnte sich in den nächsten Monaten jedoch auch in Deutschland eine Katastrophensituation ergeben, in der die Mittel des Gesundheitswesens akut nicht ausreichen.

Exkurs: Bis zum Ende der Corona-Pandemie prognostiziert die Bundesregierung rund 50 Millionen Infizierte, von denen etwa 2,5 Millionen zum Überleben auf eine etwa zehntätige künstliche Beatmung angewiesen sein werden. Die derzeit praktizierte Kontaktreduktion soll die Infektionskurve niedrig halten, damit jeder Bedürftige versorgt werden kann. Denn bei einer Überlastung der Krankenhäuser steigt die Sterblichkeitsrate circa bis um den Faktor zehn.

Reichen die Mittel nicht aus, um allen lebensbedrohlich erkrankten Patienten zu helfen, befinden sich Ärzte in einer Kollision moralischer beziehungsweise (verfassungs)rechtlicher Pflichten. Wenn ein Arzt nur eine Pflicht erfüllen kann, lässt sich diese Pflichtenkollision nicht auflösen. Rechtlich kann der Arzt offenbar, so der Strafrechtler Till Zimmermann von der Universität Trier, in einer solchen Katastrophensituation frei entscheiden.

Aus einer ethischen Sicht, die von grundlegenden Individualrechten ausgeht, muss entweder ein Vorgehen gewählt werden, bei dem möglichst viele Menschen gerettet werden – ungeachtet von Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Ethnie, sozialer Status oder Verdienst –oder aber ein Zufall-Vorgehen sollte gewählt werden, etwa ein Losverfahren, das allen Kranken, sofern sie eine einigermaßen realistische Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung haben, die gleiche Chance einräumt.

7) Die „klassische“ Triage lässt sich – hier folge ich der Philosophin Weyma Lübbe – nur im eng definierten Katastrophenfall rechtfertigen, also nur für den Fall, dass plötzlich eine sehr große Anzahl Bedürftiger versorgt werden muss und dabei die normalerweise bereit gehaltenen Ressourcen bei weitem nicht ausreichen. Die „klassische“ Triage-Regel lautet, die Ressourcen so einzusetzen, dass möglichst viele Menschen überleben. Das Vorgehen der Triage geht von einer Einteilung in vier Gruppen aus: Vorrangig behandelt werden schwer betroffene Patienten, die ohne die Behandlung sicher oder sehr wahrscheinlich nicht überleben, bei Behandlung jedoch eine gute Prognose haben. Zweitens wird die Gruppe behandelt, deren Chance, die Erkrankung zu überleben, auch ohne Behandlung nicht unerheblich ist, aber bei Behandlung noch deutlich steigen würde. Eine dritte Gruppe wird nicht behandelt: Hier handelt es sich um leicht betroffene Patienten, die auch ohne Behandlung eine gute Prognose haben. Eine vierte Gruppe wird bis zur Entspannung der Lage ebenfalls nicht beziehungsweise lediglich palliativ behandelt: schwer betroffene Patienten, die auch bei Behandlung eine schlechte Prognose hätten.

8) In Bezug auf die Art der Triage gibt es derzeit ethische Problemanzeigen: In Italien ersetzte der Ärzteverband „SIAARTI“ die traditionelle Triage-Regel der Maximierung der Anzahl der Überlebenden durch die Regel der Maximierung der Jahre geretteten Lebens. Das letztgenannte Nutzenmaximierungs-Kriterium ist dem Utilitarismus zuzuordnen. In der konkreten Pandemie bevorzugt eine solche Auswahl jüngere Menschen, die per se noch mehr Lebensjahre zu erwarten hätten, und stellt eine Diskriminierung von Menschen höheren Alters und von Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderung dar.

Im Elsass wird die Regel angewandt, Menschen über 80 Jahre nicht mehr intensivmedizinisch zu behandeln oder zu beatmen. Dies stellt eine Altersdiskriminierung dar und ist mit dem Recht auf Leben und Gesundheitsversorgung im Krankenfall und dem Recht auf Gleichheit (in Form von Chancengleichheit) nicht zu vereinbaren.

8) Voraussetzungen für ein Triage-Vorgehen sind ein geübter, unparteilicher ärztlicher Blick für medizinische Bedürftigkeit und für die klinische Prognose im Einzelfall. Allerdings ist aus ethischer Sicht hier ein Problem anzuzeigen: Eine verdeckte Diskriminierung ärztlicherseits ist möglich – über „medizinische Aussichtslosigkeit“ beziehungsweise über den Abgleich günstiger und weniger günstiger Prognosen. Nicht-Experten können dies zudem kaum überprüfen. Ein weiteres Problem, dass Entscheidungen unter Unsicherheit mit entsprechenden Irrtümern zu fällen sind, liegt in der „Natur des Problems“. Es lässt sich mit einem Mehr-Augen-Prinzip in einem ärztlichen Konsil reduzieren, aber nicht beseitigen.

9) Statt einem Triage-Vorgehen wäre aus ethischer Sicht angesichts des Rechts auf Gleichheit/Gleichbehandlung – als gleiche Chance auf eine Behandlung auch ein Losverfahren denkbar. Dies würde dem Gleichheitsgrundsatz entsprechen.

10) Eine bevorzugte Rettung der Retter, also der Mitarbeiter des Gesundheitswesens, lässt sich angesichts einer Perspektive grundlegender Individualrechte nicht rechtfertigen, wenn als Grund der besondere Verdienst oder die besondere Gefährdung abgestellt würde. Denn „Verdienst“, „Risikobereitschaft beziehungsweise Berufsrisiken“ oder „Dankbarkeit“ können den Vorzug, wenn es um Leben und Tod geht, nicht rechtfertigen. Zudem könnten in diesem Sinne auch andere Berufsgruppen und Mitglieder der Gesellschaft plausibel den Anspruch auf Bevorzugung erheben.

Nur im Extremfall, wenn also die Effizienz der Rettung nicht anders gewährleistet werden kann, müssten Mitarbeiter des Gesundheitswesens vorgezogen werden – aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Möglichkeiten der Rettung aller willen. Davon unbenommen ist der Schutz der Mitarbeiter des Gesundheitswesens unbedingt zu gewährleisten. Derzeit besteht vor allem ein Mangel an Material, der durch Strukturmaßnahmen behoben werden muss.

11) Der Strafrechtler Till Zimmermann wies jüngst darauf hin, dass es derzeit Ärzten obläge, schwerwiegende Triage-Entscheidungen zu fällen. Einerseits appelliert er damit an das Verantwortungsbewusstsein der Ärzte, andererseits macht er zu Recht eine wichtige Problemanzeige angesichts unterschiedlicher Moralvorstellungen von Ärzten: Es besteht rechtlicher Regelungsbedarf, um Patienten vor ärztlicher Willkür und um Ärzte vor moralischer Überforderung zu schützen. Es sollten gerechte und transparente Regeln gelten, die der Gesetzgeber als demokratisch legitimiertes Organ verantwortet und nicht die einzelnen Ärzte.

Die Anstrengungen der Krankenhäuser zur Erhöhung der Intensiv- und Beatmungsplätze sind immens. Trotzdem kann es sein, dass die Behandlungsplätze nicht ausreichen werden. Aber auch davon abgesehen werden wir in diesem Jahr aller Voraussicht nach äußerst viele Todesfälle haben. Es kommen also schwere kollektive und schwere persönliche Erfahrungen auf uns zu, weil wir statistisch gesehen vermutlich davon betroffen sein werden, dass uns nahestehende Menschen versterben. Die von Nachdenklichkeit und Angst durchwobene Atmosphäre in Deutschland ist der Situation angemessen. Versuchen wir anzunehmen, was nicht zu ändern ist, und zu handeln, wo sich etwas verhindern oder ändern lässt.

Prof. Dr. Monika Bobbert ist Direktorin des Seminars für Moraltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster.

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