"Politik und Gerichte brauchen moralischen Kompass von uns"
Die moralischen Fragen der Coronakrise sollten nach Auffassung des Rechtswissenschaftlers Prof. Dr. Nils Jansen von der Universität Münster nicht allein Politik, Gerichten und Wissenschaft überlassen werden. Vielmehr brauche die Gesellschaft – „und das sind wir selbst“ – eine gemeinsame moralische Grundausrichtung, auch wenn das Ringen darum unpopulär geworden sei, so der Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der WWU. Weder Regierungen noch Gerichte kämen auf Dauer „ohne den Kompass einer öffentlichen Moral“ aus. Ob es um die drängenden medizinethischen Fragen in den Kliniken, Mieten von Einzelhändlern, die drohende Pleite von Betrieben im Shutdown, den Mangel an Erntehelfern oder um Rückerstattungen von Reisen und Kulturangeboten gehe: Die Rechtslage sei lange nicht so eindeutig, wie viele meinten. In der Pandemie brauche es daher Antworten auf die normative Frage, „welche Rücksicht wir einander schulden, wie weit wir mit Rücksicht auf das Wohl anderer auch schmerzliche Einschränkungen hinnehmen müssen.“ Hier fehle es „an einem Kompass: an einem einigermaßen kohärenten Set gemeinsamer Regeln und Überzeugungen jenseits von Rechtsnormen und medizinischen Handlungsanweisungen. Denn bislang, etwa in der Klimadiskussion, hat man solche Fragen zumeist verdrängt.“
Es helfe auch nicht, die großen Fragen der Krise allein der Wissenschaft zu überlassen, schreibt der Rechtswissenschaftler weiter in seinem Beitrag „Corona und die öffentliche Moral“ auf der Website des Exzellenzclusters. Vielmehr folgten die aktuellen Diskurse etwa in der Medizin, Jura und Ökonomie stark den Binnenrationalitäten des jeweiligen Faches. „Eine Gesellschaft muss sich zwischen diesen Rationalitäten orientieren und zu übergreifenden Maßstäben finden. Um Leben und Tod geht es nicht nur im Krankenhaus.“ Als Beispiel führt Jansen die Frage an, warum in der Coronakrise andere Maßstäbe gelten als mit Blick auf die Luftverschmutzung, die laut Weltgesundheitsorganisation ebenfalls tausende Tote gefordert habe. Während das Sterben eines Coronainfizierten auf das Virus zurückgeführt werde, spreche beim Tod durch umweltbedingte Atemwegs- oder Herzerkrankungen niemand von Feinstaub- oder Ozonvergiftung. „Das ist irrational, die Kausalitäten sind hier wie dort konstruiert. Kann eine aufgeklärte Gesellschaft hinnehmen, dass Kausalitätsbeschreibungen und Gewöhnungseffekte ihr moralisches Werten und Handeln derartig grundlegend steuern?“
Dass die Rechtslage in vielen Fragen, die die Coronakrise aufwirft, unklar sei, legt Nils Jansen am Beispiel bedrohter Einzelhändler dar, die den Staat zur Zahlung ihrer Ladenmiete auffordern. „Verträge, so nimmt man an, gelten ohne Wenn und Aber. Viele reagieren aber empört, als Unternehmen wie Adidas die Mietzahlungen einstellen wollen.“ Doch es sei gar nicht klar, ob Ladenvermieter den Mietpreis ungekürzt verlangen können, wenn die Läden schließen müssen. Bis ins 19. Jahrhundert sei das Gegenteil selbstverständlich gewesen. Auch heute gebe Paragraf 313 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) dem Mieter ein Recht auf Vertragsanpassung, wenn „Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind“, sich „schwerwiegend verändert“ haben. Freilich gilt dies, so Jansen, nur soweit es „zumutbar“ sei. „Was zumutbar ist, ist eine Frage gesellschaftlicher Überzeugungen, wer welche Risiken tragen und Rücksicht nehmen soll. Gerichte könnten solche Normen besser anwenden, wenn die Gesellschaft hier über einen Kompass verfügte.“
Gleiche Probleme stellten sich bei Ballettschulen, Operntickets oder angezahlten Urlaubsreisen, führt der Rechtswissenschaftler aus. „Wem ist damit gedient, wenn entfallene Aufführungen und Unterrichtsstunden rückerstattet werden? Wäre es nicht schön, wenn es auch im nächsten Jahr noch Opernhäuser, Ballettschulen und Hotels gäbe? Vielleicht sollten wir einander zumuten, auf Rückerstattungsansprüche zu verzichten.“
„Die Kirchen haben wenig von sich hören lassen“
Die Gesellschaft sollte nach den Worten von Nils Jansen nicht einfach hoffen, „es werde schon vernünftig ausgehen“, wenn sie die moralische Bewältigung solcher Herausforderungen dauerhaft ihrer Regierung und deren Experten überlasse. Ohne eine breite gesellschaftliche Verständigung darüber werde es nicht gehen. Auch der „säkulare Glaube unserer Religionen“ bietet dem Wissenschaftler zufolge keine Orientierung. „Auch Kirchenväter und -mütter glauben nicht mehr, Messfeiern, Bittprozessionen oder gemeinsame Freitagsgebete könnten helfen. Früher hätte man die Anstrengungen vervielfältigt.“ Überhaupt hätten die Kirchen wenig von sich hören lassen, so Jansen, obwohl doch einiges dazu zu sagen wäre, was Nächstenliebe heißen könne, wenn soziale Distanz das Gebot der Stunde sei. „Demgegenüber hat die Politik rasch gehandelt. Man fürchtet apokalyptische Zustände und folgt deshalb den Empfehlungen von Virologen und Infektionsmedizinern.“ (vvm)