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Münster (upm)
Die weltweite Vereinheitlichung medizinischer Dokumentationsformulare ist das Ziel des Portals für medizinische Datenmodelle.<address>© Livingpage</address>
Die weltweite Vereinheitlichung medizinischer Dokumentationsformulare ist das Ziel des Portals für medizinische Datenmodelle.
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Wikipedia für medizinische Formulare

Ein Expertenteam entwickelt ein Online-Portal mit Standards für Patientenakten und Studien

Bitte freimachen: Wer als Patient eine ärztliche Praxis oder Klinik betritt, muss sich entblättern – auch in Hinsicht auf die eigene und familiäre Vorgeschichte. Welche Krankheiten wurden überstanden? Welche Leiden sind chronisch? Welche Beschwerden plagen im Moment? Und litt die Großmutter väterlicherseits vielleicht an einer Herzschwäche? Kaum ein medizinisches Detail, das nicht in oft ellenlangen Fragebögen oder in Arztgesprächen erfasst wird. Die Berge an Patientendaten, die sich auf diese Weise anhäufen, können aber kaum übertragen oder verglichen werden. Es fehlen die gemeinsamen Standards: Welche Info erfragt und wie sie digital dokumentiert wird, kann sich von Arzt zu Arzt, von Klinik zu Klinik, von Labor zu Labor unterscheiden.

„Insel-Lösungen“ nennt Prof. Dr. Martin Dugas diese individualisierte Herangehensweise, die er in erster Linie als Verschwendung kostbarer Ressourcen empfindet. „Ein Beispiel ist die Arbeitszeit der Ärzte, von der im Schnitt ein Drittel für die Erfassung und Dokumentation der Daten draufgeht, dann aber vielleicht im Umgang mit den Patienten fehlt“, sagt der Direktor des Instituts für Medizinische Informatik der WWU. Um Abhilfe zu schaffen, hat er mit seinem Team das „Portal für medizinische Datenmodelle“ entwickelt. Auf dieser Internetplattform finden sich Dokumente für Routineuntersuchungen, für die Qualitätssicherung und für die klinische Forschung, die der gesamten medizinischen Community kostenfrei zur Verfügung stehen.

Warum gibt es noch kein entsprechendes Kompendium der wichtigsten Datenmodelle? „Fast alle Formulare stehen nur in Verbindung mit Computerprogrammen zur Verfügung“, erklärt Martin Dugas. „Nicht einmal fünf Prozent der Datenmodelle sind frei verfügbar.“ Geheimniskrämerei in der Dokumentation verhindert aber jeden Austausch. Das wiederum verhindert die Etablierung transparenter und kompatibler Standards, die vor allem für die klinische Forschung von großem Nutzen wären: Hier werden in groß angelegten Studien wichtige Daten erhoben, die aber nur selten für weitere Untersuchungen genutzt werden können.

Mediziner in der klinischen Forschung sieht Martin Dugas vorerst auch als wichtigste Zielgruppe des Portals. Und er hofft auf ihre medizinische Schwarmintelligenz: Das Portal soll mehr sein als ein statischer Katalog mehr oder weniger überlappender Datenmodelle zu bestimmten Krankheitsbildern. „Die Daten von Patienten würden niemals auf dem Portal gespeichert werden“, betont er. „Es geht nur um die Vorlagen der Dokumente.“ Genauer: Die WWU-Informatiker möchten Datenmodelle über die interaktive Mitarbeit der medizinischen Community perfektionieren. Jeder Nutzer kann also nicht nur eigene Formulare – etwa zu neuen klinischen Studien – einstellen und fremde Vorlagen nutzen, sondern auch bewerten, kommentieren, online diskutieren und verbessern.

Auf diese Weise sollen optimierte Datenmodelle entstehen, die Informationen maßgeschneidert und in einer Art gestaffelten Nutzung nur nach Bedarf erfassen. „Bei einem bestimmten Krankheitsbild würde der Hausarzt vielleicht nur die Top 30 der wichtigsten Datenpunkte erfragen, während Kliniker auf Grundlage desselben Datenmodells tiefer gehen könnten“, berichtet Martin Dugas. Der radikal neue Ansatz würde Zeit sparen, den Aufwand verringern und die Medizin auf Daten-Diät setzen. Das ist das Gebot der Sparsamkeit für Patientendaten: soviel Info wie medizinisch nötig, aber nicht mehr. Dank der gemeinsamen Grundlage wären auch Daten aus unterschiedlichen Studien kompatibel und könnten nun – mit dem Einverständnis der Patienten – verglichen und gemeinsam ausgewertet werden.

Der Erfolg gibt den WWU-Informatikern recht. Das Portal gehört schon jetzt zu den weltweit größten Anbietern kostenfreier Datenmodelle. Mehr als 1000 Nutzer sind aktiv, und von den 20.000 Dokumenten, die den Grundstock an Datenmodellen bilden sollen, sind bereits drei Viertel online. Der Inhalt der Plattform wird überwiegend auf Deutsch und Englisch angeboten. „Weitere Übersetzungen sollen folgen“, betont Martin Dugas. „Wir sprechen dazu unter anderem mit Kollegen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal.“ Auch technische Hürden sind unerwünscht: Alle Datenmodelle gibt es in verschiedenen Formaten, um möglichst unkompliziert in die IT-Systeme der Anwender importiert werden zu können.

Und der Inhalt? Vorerst liegt der Fokus im „Portal für medizinische Datenmodelle“ auf der Tumormedizin. Weitere Schwerpunkte sollen folgen, auch wenn es dauern wird, bis die mehr als 13.000 bekannten Krankheitsbilder ihren Platz gefunden haben. Damit auf diesem Weg nichts verloren geht, haben sich die WWU-Informatiker maximaler Transparenz verschrieben. Quellen und Änderungen bleiben erhalten, sodass sich die Entwicklung aller Datenmodelle jederzeit rekonstruieren lässt. Dank einer Kooperation mit der Universitäts- und Landesbibliothek Münster werden auch Kopien aller Datenmodelle gespeichert: Langfristige Kontinuität für ein „Wikipedia der medizinischen Formulare“, prophezeit Martin Dugas.

Autorin: Susanne Wedlich

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung „wissen|leben“ Nr. 5, 18. Juli 2018.

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