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Münster (upm/ch)
Das Verhalten von Meerschweinchen - hier Wildmeerschweinchen - kann sich durch vorgeburtlichen Stress verändern.<address>© Kaiser</address>
Das Verhalten von Meerschweinchen - hier Wildmeerschweinchen - kann sich durch vorgeburtlichen Stress verändern.
© Kaiser

Kuschelnde Männchen und balzende Weibchen

Neue Forschergruppe untersucht vorgeburtlich erworbene Eigenschaften: Fehlverhalten oder Anpassung?

Männlich oder weiblich? Bei einem Meerschweinchen ist das nicht auf den ersten Blick erkennbar. Es sei denn, es balzt. Dann ist es ein Männchen - meistens. Es kann aber auch ein Weibchen sein, dessen Mutter während der Schwangerschaft sozialem Stress ausgesetzt war. Dann haben die Töchter körperliche Besonderheiten wie einen erhöhten Spiegel "männlicher" Hormone im Blut und zeigen Balzverhalten. "Vorgeburtlicher Stress kann bei Meerschweinchen und anderen Tieren ebenso wie beim Menschen die Entwicklung beeinflussen", sagt der Verhaltensbiologe Prof. Dr. Norbert Sachser von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). "Bislang ging man davon aus, dass solche Verhaltensänderungen Abweichungen von der Norm darstellen oder gar krankhaft sind. Wir fragen uns nun: Können sie auch eine Anpassung an die Umwelt sein?" Eine Antwort darauf wollen die Wissenschaftler durch ein neues Forschungsprojekt finden.

Das Team vom Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie um Norbert Sachser und Privatdozentin Dr. Sylvia Kaiser ist Teil einer überregionalen Forschergruppe, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) neu eingerichtet wurde. Die Wissenschaftler vermuten: Neben der evolutionären Anpassung durch Selektion über die Generationen gibt es auch kurzfristige Verhaltensanpassungen. Diese werden beispielsweise durch die Lebensumstände der Mutter während der Schwangerschaft festgelegt und sind nicht genetisch bestimmt.

"In stabilen kleineren Meerschweinchengruppen bekommen Weibchen, die sich 'typisch weiblich' verhalten, mehr Nachwuchs", vermutet Sylvia Kaiser. "Dagegen könnten in sehr großen Gruppen, in denen die Sozialpartner häufig wechseln, die durchsetzungsstärkeren 'vermännlichten' Weibchen einen Vorteil haben und sich besser fortpflanzen." Norbert Sachser ergänzt: "In der Natur schwankt die Populationsdichte von Wildmeerschweinchen stark. Wir vermuten, dass eine Meerschweinchenmutter, die während der Schwangerschaft in einer großen, instabilen Gruppe lebt, ihre Töchter auf genau diese Lebensbedingungen optimal vorbereitet. Die Vermännlichung wäre dann eine Anpassung, kein Fehlverhalten."

Auch die Söhne von "gestressten" Müttern verhalten sich anders als ihre Artgenossen. "Während andere Meerschweinchen mit der Pubertät Balzverhalten und Dominanzgebaren an den Tag legen, um möglichst viele Weibchen für sich zu gewinnen, haben diese Männchen eine verzögerte Entwicklung. Sie kuscheln gern und verhalten sich, als wären sie noch nicht geschlechtsreif", so Norbert Sachser. Was klingt, als könnten die Tiere mit den "richtigen Männern" in der Gruppe nicht mithalten, könnte sich als Vorteil entpuppen - zumindest solange sie wie ihre Mütter in einer großen Gruppe mit vielen dominanten älteren Männchen leben. Denn die jungen Männchen warten, bis ihre Chance gekommen ist. Erst wenn sie körperlich in der Lage sind, mit den "Platzhirschen" um die Weibchen zu konkurrieren, zeigen sie Werbeverhalten. Vorher vermeiden sie aussichtslose Auseinandersetzungen.

Neben der Phase vor der Geburt interessieren sich die münsterschen Forscher noch für einen anderen sensiblen Zeitraum: die Pubertät. "Hier wird noch einmal 'nachjustiert'. Die Tiere entwickeln in dieser Phase ein Verhalten, das angesichts der gegebenen Umstände einen maximalen Fortpflanzungserfolg garantiert", vermutet Norbert Sachser. Gemeinsam mit Wissenschaftlern in Potsdam und Bielefeld, von wo aus das Projekt koordiniert wird, wollen die Münsteraner ihre Hypothesen nun überprüfen. Dazu untersucht die Forschergruppe nicht nur Meerschweinchen, sondern auch Wühlmäuse, Zebrafinken, Blattkäfer und Wachsmotten. Die DFG unterstützt das Projekt für zunächst drei Jahre mit 1,5 Millionen Euro. Rund 450.000 Euro gehen an die münsterschen Forscher, welche auch die Hormonuntersuchungen für alle beteiligten Wissenschaftler durchführen.

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