Erfahrungen formen Persönlichkeit
Wie werden Lebewesen zu Individuen, die sich durch ihre persönliche Hirnstruktur und ihr Verhalten von anderen unterscheiden? Forschern in Dresden, Berlin, Münster und Saarbücken ist jetzt ein entscheidender Schritt zur Klärung dieser Frage gelungen. Sie konnten bei Mäusen nachweisen, dass Erfahrungen die Neubildung von Hirnzellen beeinflussen und somit zu messbaren Veränderungen im Gehirn führen können. Das Spannende dabei: Die Mäuse entwickelten individuelle Verhaltensmuster – unterschiedliche "Persönlichkeiten" – obwohl sie, ähnlich wie eineiige Zwillinge, das gleiche Erbgut besaßen. Zudem lebten sie alle im selben Gehege. Die Ergebnisse der Studie sind in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift "Science" veröffentlicht.
Das Gehirn wächst buchstäblich an seinen Aufgaben. Es verändert sich ein Leben lang mit jeder neuen Erfahrung, wodurch sich auch Persönlichkeit und Verhaltensweisen fortentwickeln. "Uns interessiert, wie persönliche Erfahrungen die Hirnstruktur eines Individuums beeinflussen und welche Rolle das Erbgut dabei spielt", erklärt Verhaltensbiologe Prof. Dr. Norbert Sachser, einer der münsterschen Autoren. Warum sind beispielsweise eineiige Zwillinge mitunter so unterschiedlich, auch wenn sie gemeinsam aufwachsen? Um diesen Fragen nachzugehen, beobachteten Forscher in der Abteilung für Verhaltensbiologie der Universität Münster 40 genetisch identische Mäuse. Diese teilten sich ein Gehege mit einem reichhaltigen Angebot an Beschäftigungs- und Erkundungsmöglichkeiten.
Alle Mäuse waren mit besonderen Mikrochips ausgestattet. Dadurch war es den münsterschen Verhaltensbiologen in Kooperation mit Geoinformatikern der Uni Münster möglich, Bewegungsprofile zu erstellen und das Maß der Aktivität der Tiere zu erfassen. Fazit: Trotz gemeinsamer Umgebung und identischen Erbguts zeigten die Mäuse sehr individuelle Verhaltensmuster. Sie reagierten unterschiedlich auf ihre Umwelt. Im Laufe des rund dreimonatigen Experiments wurden diese Unterschiede immer deutlicher. Weitere Untersuchungen durch Wissenschaftler des DFG-Forschungszentrums für Regenerative Therapien in Dresden sowie des Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben gezeigt: Je aktiver sich die Mäuse verhielten, desto stärker bildeten sich neue Nervenzellen in der für Lernen und Gedächtnis zuständigen Hirnregion des Hippocampus.
Die "adulte Neurogenese", wie die Bildung von Nervenzellen im Hippocampus genannt wird, befähigt das Gehirn, flexibel auf neue Informationen zu reagieren. Mit der aktuellen Studie haben die Wissenschaftler nachgewiesen, dass persönliche Erfahrungen und daraus folgende Verhaltensweisen einen Beitrag zur "Individualisierung des Gehirns" leisten. Dabei haben sie erstmals gezeigt, dass sich diese Individualisierung weder auf unterschiedliche Umweltbedingungen noch auf genetische Verschiedenheit zurückführen lässt.
Die Studie ist ein Beispiel für eine Kooperation über Fachgrenzen hinweg. Denn erst die enge Zusammenarbeit von Fachleuten aus der Neurowissenschaft, Verhaltensbiologie, Informatik und Entwicklungspsychologie ermöglichte die Entwicklung des besonderen Versuchsaufbaus und neuartiger Auswertungsverfahren.
Originalveröffentlichung:
Julia Freund, Andreas M. Brandmaier, Lars Lewejohann, Imke Kirste, Mareike Kritzler, Antonio Krüger, Norbert Sachser, Ulman Lindenberger, Gerd Kempermann (2013): Emergence of Individuality in Genetically Identical Mice; Science Vol. 340 no. 6133 pp. 756-759 ; DOI: 10.1126/science.1235294