Für Eigenverantwortung und mehr Miteinander
In der Novemberausgabe der Unizeitung hat sich die Redaktion ausführlich den Themen Anwesenheitspflicht und Präsenzuniversität gewidmet – nicht um Position zu beziehen, sondern um die aktuelle Debatte widerzuspiegeln. Wir haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, um ihre Meinungen und Argumente gebeten, und sind überwältigt von der Resonanz!
Unsere nicht repräsentative Instagram-Umfrage, die sich vor allem an Studierende richtete, umfasste 24 Fragen, von denen 18 per Klick beantwortet werden konnten. Im Durchschnitt machten mehr als 1.500 Personen mit. So gaben 41 Prozent an, sinkende Teilnehmerzahlen in Veranstaltungen zu beobachten. Wer nicht teilnimmt, nannte als Gründe fehlendes Interesse (40 Prozent), Nebenjob (38 Prozent), Pendeln (33 Prozent), Gesundheit (24 Prozent) oder familiäre Verpflichtungen (5 Prozent). Mehrfachnennungen waren möglich.
Obwohl 54 Prozent der Befragten glauben, dass das Fernstudium zur Normalität wird, bewerten 58 Prozent die Anwesenheit in Hörsälen und Seminarräumen als ein Zeichen von Respekt und Wertschätzung. Dennoch lehnen 82 Prozent – wie der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) – eine generelle Anwesenheitspflicht ab. Nur 12 Prozent sprechen sich dafür aus. 87 Prozent argumentieren, dass eine Verpflichtung nicht zur Lebensrealität der Studierenden passe.
Differenzierter fällt die Meinung zur Anwesenheitspflicht je nach Veranstaltungsform aus. 55 Prozent befürworten sie in Seminaren, 29 Prozent in Übungen, nur 3 Prozent in Vorlesungen. 46 Prozent halten eine Anwesenheitspflicht für förderlich, um den Studienerfolg zu steigern, 44 Prozent für persönlich hilfreich. Gleichzeitig heben 37 Prozent der Befragten hervor, dass sie ihr Studium an einer Präsenzhochschule nicht begonnen hätten, wenn eine Anwesenheitspflicht gegolten hätte. Schließlich betonen 89 Prozent, dass die Qualität der Lehre die Teilnehmerzahlen beeinflusse. Die Ergebnisse zeigen: Der Großteil der Studierenden lehnt eine generelle Anwesenheitspflicht zwar ab, erkennt aber den Wert der Präsenzuniversität.
Persönlichere Einblicke boten die Direktnachrichten und Freitextantworten. Manche Studierende sehen zum Beispiel in kleinen Gruppen Vorteile, da so vor allem die Motivierten anwesend seien. Andere empfinden das Fernbleiben als ungerecht, auch weil Seminarplätze begehrt sind. Häufige Abwesenheit führe außerdem dazu, dass die Qualität des Studiums leide, mehr Selbststudium nötig werde und die Gefahr der Prokrastination, also des extremen Aufschiebens, zunehme. Leere Hörsäle führten zu Anonymität, Isolation und weniger Kontakt zu Freunden. Darum messen viele dem Austausch eine große Bedeutung zu. Er sei bereichernd, unterhaltsam und lernfördernd; er biete Halt, sorge für „Freundschaften fürs Leben“ und eine „Teilhabe am Studium“; er befördere „unterschiedliche Sichtweisen“ und sei eine „integrale Komponente“ des Studiums.
Trotzdem schätzen viele die Eigenverantwortung. Sie bedeute Freiheit und berücksichtige die individuellen Lebensumstände. Doch Eigenverantwortung bedeute im Umkehrschluss, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu akzeptieren – etwa bei den Noten. Verbindlichkeit spiele zudem im Berufsleben eine zentrale Rolle.
Die Argumente gegen eine Anwesenheitspflicht sind vielfältig. Sie verursache Stress und erschwere die Vereinbarkeit von Studium, Nebenjob, Familie, Ehrenamt oder Gesundheit. Eine Studentin schildert, wie sie ihre schwerkranke Mutter und minderjährige Geschwister pflegt. Für sie sei ein Studium ohne Anwesenheitspflicht „die Chance, aus meiner jetzigen Situation herauszukommen“. Andere berichten von langen Pendelzeiten oder Überschneidungen von Veranstaltungen, die eine Teilnahme unmöglich machen. Diese Hindernisse könnten bei einer Anwesenheitspflicht zu finanziellen Problemen, längeren Studienzeiten oder dem Studienabbruch führen.
Viele wünschen sich darum vor allem bessere Studienbedingungen. Vorlesungen sollten mehr bieten als das Ablesen von Folien: einen intensiven Austausch und das Arbeiten auf Augenhöhe. Manche fordern einen stärkeren Praxisbezug der Inhalte. Die Dozentinnen und Dozenten spielen grundsätzlich eine wichtige Rolle in den Nachrichten zu guter Lehre: Ihre Leidenschaft, Zugewandtheit und didaktischen Fähigkeiten seien wichtige Faktoren für die Motivation. Auch äußere Bedingungen beeinflussen Präsenz oder Abwesenheit: Bezahlbarer Wohnraum, ein zuverlässiger Nahverkehr und höhere BAföG-Sätze würden den Stress mindern und die Teilnahme erleichtern. Denn wie eine Einsenderin schreibt: Gute Lehre sei „nicht ersetzbar durch Medien oder Bücher“.
Die Vielzahl der Rückmeldungen zeigt, wie wichtig auch den Studierenden die Diskussion über Inhalte und Bedingungen von Studium und Lehre ist. Die differenzierten Urteile und Meinungen machen deutlich: Das komplexe Thema erfordert eine komplexe Auseinandersetzung. Die Masterstudentin Bente John plädiert in ihrer Zuschrift für „eine Balance aus Verbindlichkeit und Flexibilität“. Es brauche klare Erwartungen, eine Präsenz, „die den Studierenden echten Mehrwert bietet“, und „realistische Regelungen, die heterogene Lebenssituationen nicht bestrafen, sondern einbeziehen“. Sie plädiert für eine „Kultur der geteilten Verantwortung“, die „sowohl die Qualität der Lehre als auch die Motivation der Studierenden“ stärken könne – „ohne auf die rigide Logik einer generellen Anwesenheitspflicht zurückzugreifen“.
Autor: André Bednarz
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 10. Dezember 2025.