„Unter Stress ist das Puffersystem überlastet“
Seit den Entdeckungen des britischen Naturforschers Charles Darwin ist klar: Für die evolutive Anpassung von Organismen sind erbliche Unterschiede zwischen Individuen eine entscheidende Voraussetzung. Über die Bildung von Proteinen führen sie zu unterschiedlichen Merkmalen. In der Evolutionsbiologie heißen diese sichtbaren Unterschiede „Phänotypen“. Was Darwin noch nicht wissen konnte: Es gibt auch „verborgene“ (kryptische) genetische Variationen. Ein Team um Dr. Rascha Sayed und Prof. Dr. Joachim Kurtz vom Institut für Evolution und Biodiversität hat jetzt eine solche Variation nachgewiesen und ihre genetische Grundlage identifiziert. Im Interview mit Christina Hoppenbrock gibt Joachim Kurtz Einblicke in diesen Mechanismus.
Vor allem die höhere Evolutionsgeschwindigkeit. Individuen, deren Merkmale in der vorherrschenden Umwelt zum besten Überleben und zu den meisten Nachkommen führen, haben einen Selektionsvorteil, eine bessere sogenannte Fitness. Sie vererben diese Merkmale an die nächste Generation, wodurch eine Anpassung möglich ist. Doch wenn solche Umweltveränderungen rasch erfolgen, so wie wir es gerade durch die menschengemachte Klimaveränderung beobachten, reicht die sichtbare genetische Variation möglicherweise nicht aus. Dann kann die verborgene genetische Variation zum Tragen kommen. Kryptische genetische Variationen sind zunächst nicht als unterschiedliche Phänotypen sichtbar. Sie kommen erst bei belastenden Bedingungen zum Vorschein.
Wie funktioniert das?
Grundlage sind Unterschiede in Proteinen, die nicht zu unterschiedlichen Merkmalen führen. Denn die Organismen besitzen einen Schutz, sogenannte Chaperone. Das sind Proteine, die anderen Proteinen dabei helfen, sich auch dann richtig zu falten, wenn es kleinere Abweichung von der Norm gibt.
Also ist die richtige Faltung entscheidend für die Funktion der Proteine?
Genau. Aber unter Stress, zum Beispiel durch rasche Umweltveränderungen, reicht dieses Puffersystem nicht mehr aus. Es ist überlastet. Dies ist der Moment, an dem sich die normalerweise unsichtbaren genetischen Unterschiede auswirken. Die Proteine falten sich anders, und es kann zu vorher nicht sichtbaren Phänotypen kommen.
Haben Sie das Protein HSP90 untersucht, weil es in den Zellen von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Bakterien besonders häufig vorkommt und besonders wichtig ist?
Genau. HSP steht für Hitzeschockprotein, da es bei Stress wie bei einem Hitzeschock vermehrt produziert und aktiv wird. Es ist einer der wichtigsten Faltungshelfer. Aber es hat noch andere Funktionen, die zu einem vergleichbaren Effekt führen. Zum Beispiel reguliert es auch über epigenetische Effekte die Variation. All das führt dazu, dass eine Art Puffer entsteht. Er sorgt dafür, dass sich kryptische genetische Unterschiede im Laufe der Zeit anhäufen und unter Stress sichtbar werden. In unseren Experimenten haben wir HSP90 künstlich herunterreguliert und bei Mehlkäfern die Auswirkungen untersucht. Wir haben dadurch Phänotypen sichtbar gemacht, die man normalerweise nicht findet: Mehlkäfer mit nur halb so großen Augen wie normale Käfer. Zu unserer Überraschung hatten diese Käfer unter normalen Bedingungen keine Fitness-Nachteile und unter Dauerlicht sogar Vorteile. Bislang wusste man nicht, welche Gene für die unterschiedlichen Phänotypen verantwortlich sind, die durch HSP90 reguliert werden. Wir haben in unseren Käfern das Gen identifiziert, das der reduzierten Augengröße zugrunde liegt.
Können verborgene Varianten auch schädlich sein?
So ist es. Die meisten Varianten, die durch die Unterdrückung der Funktion von HSP90 sichtbar werden, sind negativ. Genau das war auch bislang eine Kritik an der Idee, dass es in der Evolution durch die Freisetzung kryptischer Variation einen Vorteil geben könnte. Aber manche Phänotypen, die unter den meisten Bedingungen nachteilig sind, können unter bestimmten Bedingungen einen Vorteil bieten.
Der Mehlkäfer ist ein Vorratsschädling, der in Getreidespeichern und ähnlichen Gebäuden vorkommt, da gibt es wohl sowohl Dauerdunkel als auch Dauerlicht. Paradoxerweise könnten kleinere Augen sowohl unter ‚Höhlenbedingungen‘ als auch unter Dauerlicht von Vorteil sein. Zum einen, weil der Betrieb von Augen Energie kostet. Zum anderen stört Dauerlicht die natürliche Tagesrhythmik, und wir haben erste Hinweise, dass unsere Käfer mit den kleinen Augen damit besser zurechtkommen. Eigentlich geht es aber gar nicht so sehr darum, die natürliche Situation widerzuspiegeln, sondern unser Experiment zeigt auf, welche Möglichkeiten es prinzipiell gibt, sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
Dieses Interview ist in gekürzter Fassung in der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 5. November 2025, erschienen.
Literaturhinweis: Rascha Sayed, Özge Şahin, Mohammed Errbii, Reshma, Robert Peuß, Tobias Prüser, Lukas Schrader, Nora K. E. Schulz & Joachim Kurtz (2025): HSP90 as an evolutionary capacitor drives adaptive eye size reduction via atonal. Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-025-65027-0
Die Studie entstand im Rahmen des Kooperationsprojekts „Joint Institute for Individualisation in a Changing Environment (JICE)“ der Universitäten Bielefeld und Münster sowie des Transregio-Sonderforschungsbereichs SFB-TRR 212.