|
Münster (upm/nor).
Dr. Jan Kortmann leht an einem kleinen gemauerten Turm mit Mauer an der Promenade in Münster auf einer Wiese.<address>© Uni MS - Linus Peikenkamp</address>
Auch für diese kleine Mauer interessiert sich Dr. Jan Kortmann: Der „Wasserbär“ an der Promenade glich einst die Wasserstände zwischen den Gräben aus, die zur Stadtbefestigung gehörten.
© Uni MS - Linus Peikenkamp

„Mauern waren und sind ein Zeichen von Heimat und Macht“

Dr. Jan Kortmann untersuchte die Funktion von Mauern in römischen Epen – und fand mehr heraus als erwartet

Die Definition ist schlicht und eindeutig: Eine Mauer ist eine massive Wand aus Mauerwerk. Weit gefehlt, urteilt Dr. Jan Kortmann vom Institut für Klassische Philologie, der in seiner Habilitation die Potenziale von Mauern in der römischen Literatur untersucht hat. Im Gespräch mit Norbert Robers schildert der Philologe die weiteren und vielfältigen Funktionen von Mauern.

 

Mauern, schreiben Sie, spielen schon seit jeher eine große Rolle für die Menschheit. Seit wann denn genau?

Die frühesten Zeugnisse über entsprechende Bauwerke reichen etwa 10.000 Jahre zurück. In der Literatur gibt es auch sehr frühe Quellen, etwa in der ,Ilias‘ aus dem 8. Jahrhundert vor Christus, in der es um einen Abschnitt des Trojanischen Krieges geht. Und der Sage nach waren Trojas Mauern Göttermauern. Aber erst mit der römischen Literatur werden Mauern wirklich literarisch funktionalisiert und in vielerlei Hinsicht semantisch aufgeladen. Mauern werden politisiert und zum Teil auch für Propagandazwecke benutzt, mit den Römern gewinnt dieser Topos an entscheidender Bedeutung. An erster Stelle ist dabei die ,Aeneis‘ von Vergil als das ‚Nationalepos‘ der Römer zu nennen. In einer Brücke zwischen Mythologie und Geschichte schildert es die Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja und seine Irrfahrten, die ihn schließlich ins heutiges Mittelitalien führten, wo er zum Stammvater der Römer wurde. Und dafür steht letztlich seine Gründung neuer – besserer – Mauern. Viele andere Autoren haben sich auf dieses Werk berufen. Denken Sie aber auch an die Gründungsgeschichte Roms: Romulus begann mit der Stadtgründung, indem er eine Furche zog, die als eine Art ‚Vormauer‘ die Stadtgrenzen markieren sollte. Remus spottete über diese Bemühungen und sprang über die Furche, was Romulus als Respektlosigkeit und Tabubruch ansah und daraufhin Remus tötete. Mauern wurden übrigens oft auch erst in Texten und durch Texte konstruiert, so sind beispielsweise die mythischen Mauer Thebens oder Trojas in ihrer Monumentalität nur literarisch ‚erlebbar‘.

Einerseits hatten Mauern für die Römer also offenbar eine große Bedeutung. Andererseits fielen diese Bauwerke im großen Rom doch nur bedingt auf, oder?

Sie haben recht. Rom war damals bereits eine Millionenstadt mit einem ausufernden Häusermeer, das die Mauern ‚untergehen‘ ließ, wie Dionysios von Halikarnassos zur Zeit des Augustus schreibt. Zudem benötigte Rom unter Augustus keine Mauern. Umso bemerkenswerter war, dass gerade von dieser Zeit an die Mauern in der Literatur eine gegenläufige Entwicklung erfuhren und mit Vergil eine literarische Modeerscheinung wurden – als müssten sie und ihre Bedeutung vor allem mittels des Textes in Erinnerung gerufen werden.

Welche Funktionen hatten Mauern denn zu den unterschiedlichen Zeiten und in den verschiedenen Kulturen?

Jede Mauer hatte und hat zunächst die Intention der Trennung. Eng damit zusammenhängend steht der Gedanke des Schutzes, sie waren zudem ein Zivilisationssymbol und nicht selten auch ein Zeichen von Heimat und Macht. Mit der Zeit kamen metaphorische Bedeutungen hinzu wie etwa die viel zitierten ,Mauern im Kopf‘. Was heute eher negativ behaftet ist, war früher positiv konnotiert: Die Stoiker brachten damit beispielsweise zum Ausdruck, dass sie keine Emotionen von außen an sich heranlassen. Es handelte sich also um eine positive Barriere. Andererseits gab es auch bei solchen metaphorischen Mauern eine negative Bedeutung: Der römische Philosoph Lukrez sprach beispielsweise von Mauern als Grenzen der Auffassung – demnach konnte nur der griechische Philosoph Epikur hinter die gedanklichen Mauern des Kosmos gelangen, hinter denen sich die Götter – und mit ihnen die vollständige Erkenntnis – verschanzt hielten.

Sie widmen sich vor allem der Darstellung beziehungsweise Verwendung von Mauern in römischen Epen – warum eben dort?

Ich habe mich lange mit den ,Punica‘ von Silius Italicus beschäftigt, einem Epos, das in 17 Büchern und 12.000 Versen den Zweiten Punischen Krieg beschreibt. In diesem Werk werden Roms Mauern sehr intensiv behandelt. Mir fiel auf, dass dieser Topos auch in anderen Epen vorhanden war und aufeinander aufbaute. In Vergils ,Aeneis‘ geht es, vereinfacht gesagt, um Gründungsmauern Roms. In den ,Punica‘ werden diese Mauern Roms gegen Hannibal verteidigt, in Lucans Bürgerkriegsepos ging es um die Zerstörung und den Verfall und schließlich beim spätantiken Epiker Claudian um die Neugründung. All dies war auch textlich miteinander verbunden, ohne dies explizit so zu deklarieren.

Sie sprechen sogar von Mauern als ,grandiosen Machtsymbolen‘ ...

Denken Sie beispielsweise an die Aurelianische Mauer als die gewaltige Stadtmauer Roms, die unter Kaiser Aurelian etwa 270 begonnen wurde. Dabei ging es Aurelian sicher auch darum, sich selber mit dem Bauwerk zu schmücken, das schließlich 19 Kilometer lang und etwa 3,5 Meter tief war. Es ist tatsächlich ein gewaltiges Monument, das heute noch Rom schmückt. Weit früher sprach Ovid im metaphorischen Sinne davon, dass Rom den gesamten Erdkreis in seine Mauern fasse, die somit symbolisch für die römische Macht stehen.

An anderer Stelle stellen Sie die These einer ,hochgradigen semantischen Aufladung von Mauern auf. Wie ist das gemeint?

Mauern nehmen vielfältige Funktionen ein, eben schützende, aber auch zivilisatorische, kulturelle, religiöse, machtpolitische, visuelle. Manchmal werden Menschen, Tiere, Wälder oder Gebirge wie etwa die Alpen als Mauern bezeichnet. Zum anderen schützen Mauern die darin lebenden Menschen und Gebäude, aber sie bedürfen eben auch selbst des Schutzes, den der eine lateinische Ausdruck für Mauern, ‚moenia‘, schon begrifflich in sich birgt. Der andere Begriff ‚murus‘ bezeichnet hingegen tendenziell die bauliche Konstruktion aus Stein und Mörtel. Daneben gab es eine eigene literarische Semantik.

Es gab also sowohl positive als auch negative Assoziationen?

In den meisten Fällen waren es positive Bedeutungen. Die Römer verstanden ihre Mauern beispielsweise als Möglichkeit, sich von den Fremden oder sogar den ‚Barbaren‘ abzuschotten. Die eigene Bevölkerung genoss dadurch einen Schutz, sollte sich sicher und zuhause fühlen. Mauern schufen ein Zugehörigkeitsgefühl und ‚machten‘ Städte. Man hat auch Mauern gebaut, um sich nicht permanent mit der eigenen Verteidigung beschäftigen zu müssen, sondern auf andere Dinge konzentrieren konnte, beispielsweise auf die Kultur. Manche Schriftsteller stellten sogar die Gleichung auf, dass Mauern Literatur oder vielmehr der epischen Literatur gleichkamen.

Machen wir einen Zeitsprung: Andere Mauern wie etwa die Berliner Mauer deuteten eher auf eine Schwäche des Staates hin. Offiziell deklarierte das DDR-Politbüro diese Mauer zwar als ,antifaschistischen Schutzwall‘. Aber mindestens genauso wichtig war doch wohl damit der Wille verbunden, das eigene Volk an der Flucht zu hindern ...

Das stimmt. Es gab und gibt oft ein sowohl als auch. Auch US-Präsident Trump und die israelische Regierung machen mit den Mauern zu Mexiko und zu den palästinensischen Gebieten Politik. Nach innen will man zeigen, dass man sich um Sicherheit und Schutz bemüht. Andererseits ist es ein sichtbares Zeichen dafür, dass man keine politisch-diplomatische Lösung für die jeweiligen Probleme gefunden hat. Es gibt zahlreiche Beispiele für politisierte Mauern.

Es gibt sehr viele ,prominente Mauern wie etwa die chinesische Mauer, die Berliner Mauer oder die Stadtmauern von Jericho. Was haben diese Mauern Ihrer Auffassung nach gemeinsam, was unterscheidet sie?

Bei allen Unterschieden ging es meistens um Schutz, aber eben auch um das Gefühl der Zugehörigkeit. Mit dem Bedeutungsverlust der Stadtmauer gewann über die Jahrhunderte immer mehr die Funktion der Abschottung an Relevanz, wie man es beispielsweise an der ,Berliner Mauer‘ oder der US-mexikanischen Grenzmauer gut erkennen kann. Diese Tendenz von Mauern an Landesgrenzen gab es zwar auch schon beim ,Limes‘ oder beim Hadrianswall, aber mehr im Sinne eines Identifikations- und Kontrollinstruments, um den Waren- und Personenverkehr zu regeln. Denn nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass reale Mauern immer auch Tore haben.

Mauern sind aber auch in anderen Zusammenhängen in unseren Sprachgebrauch eingesickert – beispielsweise die ,firewalls‘ im Internet oder die Mauer aus Abwehrspielern im Fußball ...

Wenn man sich so intensiv wie ich damit beschäftigt, sieht man tatsächlich irgendwann überall Mauern. All dies sind gute Beispiele dafür, dass Mauern auch heute positive und negative Assoziationen hervorrufen. Der Trend von der Antike bis heute zeigt allerdings, dass es vom vermehrt Positiven ins vermehrt Negative überging – entgegen den von Ihnen gewählten Beispielen, die die Schutzidee aufzeigen.

Was haben Sie aus Ihrer intensiven Beschäftigung mit Mauern gelernt?

Ich empfinde es als faszinierend, wie über die Jahrhunderte hinweg Mauern eine dermaßen große Bedeutung und Symbolik bekommen haben, die bis jetzt anhält. Allerdings sind die in der Antike besonders im Vordergrund stehenden Stadtmauern heute zumeist nur noch Ruinen, zumindest eher Relikte. Schauen Sie beispielsweise auf die Promenade in Münster. Doch natürlich sehe ich mir auch auf jeder Reise, und wann immer es möglich ist, Mauern an – nicht zuletzt wegen des ästhetischen Werts.

 

Dieser Artikel ist die Langversion eines Interviews aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 5. November 2025.

Links zu dieser Meldung