
„Außeneinsatz“, Teil 9: Ein Tag in der Wattstation
Auch in den Semesterferien gibt es an der Universität Münster allerhand zu tun. Die Redakteurinnen und Redakteure der Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit nutzen die vorlesungsfreie Zeit, um das eigene Büro zu verlassen und im Außeneinsatz Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität bei ihrer Arbeit zu begleiten, die buchstäblich unterwegs sind.
Ein Glück, dass wir im Jahr 2025 leben und nicht beispielsweise zweihundert Jahre vorher. Denn dann läge die Meeresbiologische Wattstation Carolinensiel unterhalb des Meeresspiegels. Auch der aktuelle Kurs mit sechs Masterstudierenden aus der Biologie sowie drei Masterstudierenden der Wasserwissenschaften wäre dann an diesem Ort nicht möglich. Vierzehn Tage lernen und wohnen sie in dem Haus direkt hinter einem alten und im Schutze eines neuen Deichs. Der Biologe Dr. Hans-Ulrich Steeger leitet diesen und weitere drei mehrtägige Kurse in dem Backsteingebäude.
Heute geht es für drei Stunden ins Watt. Die Gruppe fährt in zwei Bullis ein paar Kilometer in Richtung Campingplatz Harlesiel. In einem der Fahrzeuge sitzt Hans-Ulrich Steeger am Steuer und teilt dabei sein geologisches und historisches Wissen über die Region. Ziel ist ein Parkplatz, auf dem auch zahlreiche Tagestouristen halten. Vor allem Familien mit jüngeren Kindern und ältere Menschen nutzen das gute spätsommerliche Wetter. Möwen kreisen in der Luft, der Sanddorn leuchtet am Wegesrand. Der Gruppe aus Münster geht es aber nicht um einen lauschigen Platz in einem der Strandkörbe. Die Exkursion dient der Wissenschaft. Hans-Ulrich Steeger meldet elf Personen beim Strandwart an, der ein Auge auf alle Gäste hat. Die Studierenden folgen dem Holzbohlenweg weiter in Richtung Watt, ausgerüstet mit Eimern, Schaufeln und kleinen Flaschen für ihre spätere Ausbeute. Vorsichtig werden sie gleich die wichtigsten wirbellosen Tiere fangen und diese später, nach einem Aufenthalt im Nasslabor der Station, wieder freilassen.
Vor dem ersten Schritt ins Watt inspiziert Hans-Ulrich Steeger das Schuhwerk seiner Gruppe. Nicht alles findet seine Zustimmung. „Damit werden Sie sofort nasse Füße bekommen“, lautet sein Kommentar zu einem Paar leichter Laufschuhe. Das Problem: Kommt Schlick mit in den Schuh, wird jeder Schritt deutlich anstrengender. Gummistiefel wären besser. Auch damit kommt es auf die richtige Technik an, damit man nicht einsinkt. „Anders als an Land gehen Sie im Watt am besten mit dem Ballen voran, fast schon etwas tänzelnd“, empfiehlt Hans-Ulrich Steeger und deutet ein paar Tanzschritte an.
Die Gruppe „tänzelt“ also etwa 800 Meter zu einem Muschelschillfeld, um dort die mitgebrachten Probenbecher zu füllen. Der Untergrund auf dem Weg dahin ist Mischwatt, alle kommen gut voran. Nur an einer Stelle versinkt eine Teilnehmerin bis zu den Knien. Aber nur kurz. Dank einer helfenden Hand und dem Tipp, erst einen Fuß komplett, dann den anderen nach und nach wieder aus dem Watt zu heben, kann sie sich rasch wieder befreien – um keine zwei Minuten später wieder fleißig nach der Fauna in diesem spannenden Teil des Watts Ausschau zu halten.
Das Wetter bleibt stabil, die Studierenden scheinen weder zu bemerken, wie die Zeit vergeht, noch dass sie nebenbei wirklich sehr viel Wissen vermitteln bekommen. In erster Linie geht es darum, welche Strategien Lebewesen – Pflanzen, Tiere und Bakterien – in einem Extremlebensraum entwickelt haben, der bei stark unterschiedlichem Salz-, Temperatur- und Sauerstoffgehalt zeitweise unter Wasser liegt und zeitweise trockenfällt. Hans-Ulrich Steeger referiert aber auch darüber, wie im Mittelalter Seife hergestellt wurde oder über Kochrezepte aus Meeresfrüchten. Dann wiederum fragt er die Gruppe nach dem lateinischen Namen einer bestimmten Muschelart. Ab und zu ein paar Anekdoten einzubauen, gehöre für ihn ebenfalls dazu, erläutert der Biologe. „Das habe ich mir in der Studienzeit an der Uni Düsseldorf von unserem Professor abgeschaut. Man kann sich den Lernstoff auf diese Weise besser merken.“
Während die Gruppe im Watt häufig stehen bleibt, um die Funde zu betrachten und zu verstauen – Krebse, Muscheln, Algen, auch eine Seeanemone ist darunter, müssen die eigenen grauen Zellen sich ranhalten. Ein ganz schönes Tempo! Auf dem Rückweg geht es in diesem Stil noch an der Salzwiese vorbei, wo unter anderem der Queller gedeiht, eine einjährige Sukkulente, die auch als „Meeresspargel“ auf den Tellern der Restaurants landet. Hier erfahren die Studierenden noch, wie in den 1990er Jahren Investoren den gesamten Küstenabschnitt in eine Art zweites Mallorca verwandeln wollten. „Tagsüber Golf und Jetski, abends Party“, erinnert sich Hans-Ulrich Steeger mit Grausen an diese Idee. Glücklicherweise wurde sie nicht realisiert. „Heute wäre so etwas ohnehin nicht mehr denkbar“, ist der Dozent froh. „Denn das Wattenmeer steht als Nationalpark unter gesetzlichem Naturschutz.“
Auf dem Weg zurück zu den Autos wird die Gruppe von mehreren Touristen angesprochen. „Aha, von der Uni Münster“, nickt einer der Badegäste, „kenne ich aus dem Fernsehen.“ Interessierte Blicke in die Eimer sind willkommen. Hans-Ulrich Steeger ermuntert die Studierenden, ihre Funde zu zeigen und mit ein paar allgemeinverständlichen Worten zu erläutern. „Das gehört für mich zu unserem Auftrag als Universität, dass wir erklären, was wir machen.“
Noch kurz dem Strandwart zuwinken, dann geht es zurück zur Wattstation, wo die gesammelten Tiere in das Nasslabor gebracht werden, einem gekachelten Raum mit mehreren Salzwasserbecken. Ein Aquarium nimmt alles auf, was im Wasser schwimmt, die übrigen Tiere erhalten größere Gefäße. Fragen wie „Ist es giftig? Ist es essbar?“ kommen natürlich auch zur Sprache. „Das meiste aus der Nordsee ist ungiftig, aber nicht alles davon schmeckt auch gut“, findet Hans-Ulrich Steeger.
Überhaupt, das Essen. Bei der Wattstation handelt es sich um ein Selbstversorgerhaus. Die Studierenden planen die Gerichte, kaufen Lebensmittel ein und kochen auch selbst. Hans-Ulrich Steeger erlebt also ganz unterschiedliche Kochkünste. Mit der aktuellen Gruppe ist er sehr zufrieden. Die Kartoffelsuppe, die es diesen Abend gibt, erhält jedenfalls nur Lob. Nebenbei berichtet der Dozent aus seinem Studium. Für Biologie hat er sich entschieden, „weil mir Physik zu schwer erschien.“ Stellte sich heraus: „Biologie war auch schwer. Aber als ich in meiner ersten Vorlesung saß, wusste ich sofort: Das ist es!“
In seinem Vortrag nach dem Abendessen geht es um die Geschichte Ostfrieslands. Hans-Ulrich Steeger skizziert darin, wie sich die Landschaft über Jahrtausende hinweg bildete und wie sich der Mensch seit vielen hundert Jahren mit dem Meer arrangiert. Auf Folien verfolgen die Zuhörerinnen und Zuhörer mit, wie ein Deich nach dem anderen entstand oder bei Sturmfluten auch wieder kaputt ging. Die großen ostfriesischen Höfe standen vor dem Deichbau, ähnlich wie die Halligen, auf kleinen Hügeln („Warften“). Kam das Meer, war „Land unter“ bis weit in das bewohnte Gebiet hinein. Bauern und das Vieh versuchten sich auf den Warften in Sicherheit zu bringen. Schon Plinius der Ältere hat vor 2000 Jahren diese Praxis beschrieben, erzählt Hans-Ulrich Steeger. Dass die Deiche mittlerweile höher und sicherer gebaut würden, stelle perspektivisch keinen hundertprozentigen Schutz dar, unterstreicht der Biologe. „Orkanfluten können eine große Wucht entwickeln. Der Meeresspiegel wird zudem wegen des Klimawandels noch deutlich steigen. Vielleicht wird man wieder damit leben müssen, dass das Wasser hier irgendwann zurückkommt.“ Er möchte seine Studierenden in die Lage versetzen, sich mit naturwissenschaftlichen Methoden, einem Blick in die Geschichte des Landes und in die Soziologie so umfassend zu informieren, dass sie sich selbst ein Urteil darüber bilden können.
Hintergrund
Die Meeresbiologische Wattstation der Universität Münster in Carolinensiel liegt am niedersächsischen Wattenmeer in je etwa vier Kilometern Entfernung zwischen den Sielhäfen Neuharlingersiel und Harlesiel/Carolinensiel. Sie wurde 1970 auf Initiative Prof. Dr. H. Rahmanns und des damaligen Kurators der Universität gegründet. 1972 wurde das bis dahin als Stationsgebäude genutzte Landarbeiter-Gulfhaus durch einen modernen Neubau ersetzt, der seitdem zahlreiche Erweiterungen und Umbauten erfahren hat. Die Station wird sowohl für die Lehre (Exkursionen, Praktika und Seminare) als auch für die Forschung genutzt.
Autorin: Brigitte Heeke