
Energiewende nimmt Fahrt auf
Vor sechs Monaten machte sich das Pressestellen-Team mit seinem Dossier auf die Suche nach der „Energie für die Zukunft“. Es folgten Interviews, Gastbeiträge, wissenschaftliche Empfehlungen. Doch was bleibt? Vor allem der Eindruck, dass wir allenfalls eine Handvoll Sandkörner in der Wüste begutachtet haben. Denn die Energiewende ist ein gewaltiges Unterfangen. Sollte uns das Sorgen bereiten oder sogar Angst machen? Nein. Im Gegenteil. Der Philosoph Karl Popper brachte es allgemein auf den Punkt: „Alles Leben ist Problemlösen.“ Das gilt somit auch für die Energiewende. Wo stehen wir?
Die Ausgangslage
Es gibt nicht die Energiewende. Es gibt zig „Wenden“. Wir befinden uns auf dem Weg von der Erkenntnis zur Umsetzung, sind inmitten einer Phase des Übergangs hin zu einem kohlenstofffreien Energiemix. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass es weltweit erhebliche Unterschiede in den Konzepten, Sektoren sowie den finanziellen, technischen und politischen Voraussetzungen gibt. Eine Konstante in der globalen Diskussion ist die Forderung, wirtschaftliche Fortschritte und umweltfreundliche(-re) Energiepolitik in Einklang zu bringen. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir wollen Industrieland bleiben und klimaneutral werden.“
Die Situation in Deutschland
Dazu gibt es so viele Einschätzungen wie Forschungsinstitute und Parteien zusammen. Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein. Das dürfte eng werden. Die norwegische Klassifikationsgesellschaft „Det Norske Veritas“ ist dennoch optimistisch: Deutschland mache „bei der Umgestaltung seiner Energielandschaft große Fortschritte“, bis zum Jahr 2050 werde das Land den Kohlendioxid-Ausstoß (CO₂) im Vergleich zu 1990 um 95 Prozent verringern. Kritiker wenden ein: Dieses Wendetempo reiche (bei Weitem) nicht aus.
Der globale Blick
In 193 Ländern gibt es 193 verschiedene Konzepte, Ziele und Indikatoren. Im globalen „Energiewende-Index“ liegen Schweden, Norwegen und die Schweiz vorn, Deutschland rangiert auf Platz 16. Grund: Noch hat Deutschland mit aktuell rund 26 Prozent einen vergleichsweise hohen Anteil an Kohlestrom, während beispielsweise Großbritannien seine Kohle-Abhängigkeit von 65 Prozent (1990) auf neun Prozent reduziert hat. EU-weit sollen die CO₂-Emissionen bis 2040 um 90 Prozent gegenüber 1990 sinken. Doch all dies wird dem Planeten nur wenig helfen, sofern nicht auch China und die USA als die größten Treibhausgasemittenten konsequent auf erneuerbare Energieformen setzen. Obwohl US-Präsident Trump kein Vorreiter der Energiewende ist und China regelmäßig neue Kohlekraftwerksblöcke genehmigt, gibt es Grund zum Optimismus. Denn viele US-Bundesstaaten halten Kurs in der Energiewende, und China baut fast doppelt so viele Solar- und Windenergieanlagen wie der Rest der Welt zusammen. Schließlich: 2024 deckten erneuerbare Energiequellen bereits 40 Prozent des weltweiten Strombedarfs ab.
Die Wissenschaft und Industrie
Energieökonomin Veronika Grimm ist davon überzeugt, dass der Klimaschutz allein aus wirtschaftlichen Erwägungen weltweit prioritär bleiben wird: „Alle Länder wollen vorne mitspielen, wenn es um innovative und klimafreundliche Technologien geht.“ Siemens-Energy-Chef Christian Bruch fordert deutlich mehr Investitionen. „Die Transformation ist deutlich teurer als gedacht“, sagt er. Es sei durchaus sinnvoll, schnell neue Gaskraftwerke zu bauen, die auch mit grünem Wasserstoff Strom produzieren können. So plant es die Bundesregierung, was auch Veronika Grimm unterstützt. Mit Batteriespeichern allein seien 14 Tage ohne Sonne oder Wind nicht auszugleichen.
Der Appell
Die Wissenschaft solle den Menschen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, sondern Bedingungen für rationale Debatten schaffen, unterstreicht Philosoph Prof. Dr. Michael Quante von der Universität Münster. Sein Plädoyer: „Wir dürfen die persönliche und politische Verantwortung nicht hin- und herschieben. Bei einem globalen Problem steht grundsätzlich jeder Einzelne in der Verantwortung.“
Autor: Norbert Robers
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 16. Juli 2025.