Die Welt als sein Zuhause
Das Motto „Von der Uni in die Welt“ wirft die Frage nach dem Startpunkt auf, vielleicht sogar nach Heimat. Jedenfalls suggeriert es einen sicheren, bekannten Hafen, von dem aus es ins Unbekannte und Neue geht. Im Fall von Diego Platz Pereira lassen sich die Grenzen nicht derart trennscharf ziehen. Er wandelt, seit er sein Studium in seiner Geburtsstadt Natal begann, zwischen den akademischen Welten in Brasilien und Deutschland.
Ein Schnelldurchlauf durch seine Vita: Er erwarb den Bachelor in Rechtswissenschaften in Natal, kam in dieser Zeit für ein Austauschsemester nach Münster, eine Stadt in die er sich „am ersten Tag verliebte“. Für seinen „Master of Law“ kehrte er an die Rechtswissenschaftliche Fakultät in Münster zurück. Seit 2023 promoviert der Brasilianer im binationalen Promotionsverfahren „Cotutelle“ (aus dem Französischen: „gemeinsame Aufsicht“) auf dem Gebiet des ungeschriebenen Verfassungsrechts und der Verfassungsvergleichung. Sein Doktorgrad wird ihm nach Abschluss gemeinsam von zwei Universitäten in zwei Ländern verliehen: von der Universität Münster und der Universidade de São Paulo. „Den größeren Anteil meiner Forschungszeit verbringe ich in Münster. In São Paulo, wo ich mich gerade befinde, sind insgesamt mindestens sechs Monate vorgesehen“, erklärt Diego Platz Pereira.
Angesprochen auf seine Gefühle zu beiden Ländern und Universitäten wird deutlich, dass sein gedanklicher Horizont weit über Rechtsfragen hinaus geht. „Heimat ist für mich ein Begriff im Wandel. Wenn mit Heimat ein Ort gemeint ist, könnte ich nicht sagen, wo ich mich derzeit heimischer fühle. Ich versuche, Heimat immer weniger als einen Ort, sondern in ihrer Beziehungsdimension zu Gott und zu anderen Menschen zu begreifen“, erläutert der Promovend.
Doch wie kam es dazu, dass ein junger Mann aus dem Nordosten Brasiliens von Deutschland träumte? Diego Platz Pereira erinnert sich, dass er bereits im ersten Semester den Wunsch hegte, Deutsch zu lernen. Übersetzte Klassiker deutschsprachiger Autorinnen und Autoren zur politischen und Rechtstheorie haben ihn begeistert: Er las beispielsweise Hannah Arendt, Hans Kelsen und Rudolf von Jhering. „Außerdem war ich neugierig auf andere Sprachen, Kulturen und Denkweisen.“ Nach zwei Jahren wachsender Begeisterung für die deutsche Sprache durch Deutschkurse und einführende Rechtskurse auf Deutsch erhielt er ein Stipendium für einen „Winterkurs“. Er verbrachte daraufhin zwei Monate in Aachen und Berlin. Auf Empfehlung eines Freundes machte er vor dem Rückflug einen Tagestrip nach Münster. „An diesem sonnigen Februartag waren die Bedingungen perfekt, Münster ins Herz zu schließen.“ Zurück in Brasilien erfuhr er von einem „Call“ für ein Auslandssemester und erkundigte sich, welche deutschen juristischen Fakultäten in Frage kämen: Die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Münster und Natal hatten kurz zuvor einen Kooperationsvertrag geschlossen. Und so wurde es Münster.
Die guten Beziehungen der Uni Münster zu brasilianischen Hochschulen spielten auch bei der Entscheidung für das „Cotutelle“-Verfahren eine große Rolle. Hier half ein Rahmenabkommen zwischen den rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Münster und São Paulo. „Eine internationale Doppelpromotion bietet nicht nur eine fachliche Vertiefung, sondern vor allem den Zugang zu einem Bewusstsein für unterschiedliche Fachkulturen. In meinem Fall besonders, da mein Promotionsthema beide Länder betrifft“, betont Diego Platz Pereira. Außerdem erleichtere sie das Vernetzen und sei attraktiv, weil der Doktortitel in beiden Ländern anerkannt werde. Für einen jungen Juristen, der nicht ein bestimmtes Land, sondern die Welt als sein Zuhause wahrnimmt, ein starkes Pfund, mit dem er auf dem internationalen Arbeitsmarkt wuchern kann.
Er habe stets versucht, „das Beste aus beiden Welten zu bekommen“. In Deutschland gebe es zum Beispiel vergleichsweise viele Stipendienmöglichkeiten für Studium, Promotion oder Forschung sowie ein deutlich breiteres Angebot an befristeten Forschungs- und Lehrstellen. „In Brasilien müssen sich Studierende und Postgraduierte viel mehr Sorgen um die Finanzierung ihrer akademischen Vorhaben machen“, weiß der 27-Jährige. Sein Alltag in São Paulo unterscheide sich nicht wesentlich von dem in Münster. Vor- und nachmittags arbeite er in den Bibliotheken, freie Zeit verbringe er mit Freunden, seiner Frau oder beim Sport. Deutliche Unterschiede spürt er allerdings hinsichtlich der Sprache, auf der er sich mit juristischen Themen befasst. „Auf Deutsch neigt man dazu, Gedanken besonders gründlich, präzise und elaboriert auszudrücken. Im Englischen möchte man für die Leserschaft ansprechend formulieren. Im brasilianischen Portugiesisch werden Sachverhalte oft in Beziehung zu anderen Aspekten gesetzt“, findet der Brasilianer. Derzeit sei noch offen, wie es nach der Promotion für ihn weitergeht. „Ich tendiere dazu, erst einmal in Deutschland beziehungsweise in Europa zu bleiben“, sagt Diego Platz Pereira. „Da ich verheiratet bin, werden alle Zukunftspläne natürlich zu zweit geschmiedet.“
Autorin: Hanna Dieckmann
Seit dem Jahr 2010 bündelt das Brasilien-Zentrum (BZ) der Universität Münster Kooperationen zwischen der münsterschen Universität und brasilianischen Hochschulen sowie Fördereinrichtungen. Das Hauptziel des BZ einschließlich seiner Außenstelle in São Paulo, besteht darin, die Zusammenarbeit zwischen der Universität Münster und Brasilien zu stärken, zu vertiefen und neue Kooperationen zu initiieren sowie den Austausch zu fördern. Am 23. Juni 2025 feiert das Brasilien-Zentrum sein 15-jähriges Bestehen und die langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit mit Brasilien mit einem Festakt in der Aula des Humboldthauses (Hüfferstraße 61, Münster). Die Veranstaltung beginnt um 15 Uhr und bietet spannende Vorträge, Erfahrungsaustausch und Networking.
Immer schön im eigenen Saft schmoren, mit Scheuklappen durch den Lernmarathon, forschen ohne Kontakt zur Außenwelt? Nicht an der Uni Münster! Die Universität legt Wert auf Internationalität und eine weltoffene Atmosphäre. Wer eine Zeit lang im Ausland forscht oder lehrt, bringt viele Geschichten mit. Einige davon erzählen wir in dieser Serie.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2025.