
Faszination für das Buch ist ungebrochen
Viel Pessimismus rund ums Buch ist derzeit zu hören, nach dem Motto: Die jungen Leute lesen nicht mehr, mehr oder weniger intelligente Maschinen schreiben künftig unsere Romane, es verkauft sich nur noch vermeintlicher Schund und so weiter. Prof. Dr. Corinna Norrick-Rühl vom Englischen Seminar schüttelt den Kopf. „Es hat zu allen Zeiten solche Klagen gegeben“, unterstreicht die Buchwissenschaftlerin. „In anderen Jahrhunderten galt es beispielsweise als verwerflich, seine Zeit mit Romanen zu verschwenden.“ In der Nachkriegszeit habe das Bildungsbürgertum im Lesen von Comics den Untergang des Abendlandes gesehen. Es gebe auch jetzt keinen Grund für einen Abgesang. Einschlägige Kennzahlen bestätigen, dass das gedruckte Wort noch immer einen hohen Stellenwert hat. So meldete der Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Januar 2025 gegenüber dem Vorjahr in der Belletristik sogar ein Umsatzplus von fast 13 Prozent.
Auf dem deutschen Buchmarkt fallen Corinna Norrick-Rühl vor allem drei Trends auf. Seit der Nachkriegszeit waren die westdeutschen Verlage stark auf englischsprachige Literatur fixiert, etwa von Ernest Hemingway oder Katherine Anne Porter. Das Kerngeschäft bestand darin, Lizenzen einzukaufen und Übersetzungen herauszubringen. „Immer mehr Menschen können und wollen aber mittlerweile in Originalsprache lesen“, beobachtet die Expertin. „Von 2022 auf 2023 hatten wir ein 27-prozentiges Wachstum im englischsprachigen Bereich. Wer zum Beispiel die Autobiografie des britischen Prinzen Harry schon auf Englisch liest, kauft sich danach sicher keine deutschsprachige Version davon.“ Das Buch belegte mehrere Wochen die ersten drei Plätze auf den Bestsellerlisten – im britischen und amerikanischen Englisch sowie in der deutschen Übersetzung. „Manche Verlage lizenzieren nun gleich beide Sprachen. Andere wägen ab, ob eine Übersetzung noch tragbar ist.“
Gerade erst kommt die Wissenschaftlerin von einer Archivreise aus den USA zurück. Am „Harry Ransom Center for the Humanities“ in Texas untersuchte sie den Weg amerikanischer Autorinnen und Autoren auf den deutschen Markt. Die Partnerunterlagen hatte sie vorab im Deutschen Literaturarchiv Marbach gesichtet. „Verlagswechsel gingen oft mit einem gewissen Drama einher, beispielsweise als John Updike, der zuvor bei S. Fischer erschienen war, sich für Rowohlt entschied. Wie im Fußball ist auch im Literaturtransfer viel Geld im Spiel. Das sieht man als normale Leserin oder normaler Leser aber nicht.“ Um solche Vorgänge zu beleuchten, arbeitet Corinna Norrick-Rühl meistens „klassisch historisch“, etwa mit Quellen aus dem 20. Jahrhundert.
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) ist der zweite große Trend, den Corinna Norrick-Rühl aktuell ausmacht. So setzen mittlerweile einige Verlage auf eine Software zur Beurteilung von Manuskripten. Die Wissenschaftlerin befürchtet, dass damit eine Verflachung einhergeht. Mit ihren Studierenden analysiert sie auch die Qualität von Werken aus der maschinellen Feder. „Dabei fällt uns auf, dass KI-Texten die Persönlichkeit, eine eigene Stimme fehlt. Wenn wir uns damit zufriedengeben wollen, sind solche Werkzeuge hilfreich.“ Sie vermisse jedoch Raum für Texte, die anecken und Menschen zum Nachdenken anregen. „Auch die ökologischen Auswirkungen des Energieverbrauchs durch KI gilt es mit einzupreisen.“
Der dritte Trend spiegelt politische Entwicklungen wider: Steigende Verkaufszahlen meldete im Januar das US-amerikanische Branchenblatt „Publishers Weekly“ für dystopische Romane wie „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury oder George Orwells „1984“ sowie für feministische Werke, etwa von Margaret Atwood. „Romane bieten Orientierung“, folgert Corinna Norrick-Rühl daraus. Dystopische Literatur hätte bereits in der ersten Amtszeit Trumps zugelegt. Gerade landen viele Titel auf Listen, die in öffentlichen Schulen und Bibliotheken nicht mehr gelesen werden dürfen. „Es trifft überproportional häufig Bücher von schwarzen Autorinnen und Autoren oder aus der LGBTQ+-Community“, erläutert sie. Doch die reaktionären Tendenzen seien nicht nur in den USA zu beobachten: „Wir haben auch in Deutschland Bewegungen, die versuchen, vermeintlichen Schmutz und Schund auf Listen zu setzen.“ Mit ihrer Kollegin Prof. Dr. Silvia Schultermandel gründet sie gerade ein „Banned Books Network Münster“, um darauf aufmerksam zu machen. „Dass Mächtige Angst vor Büchern haben, beweist die Kraft des gedruckten Worts.“
Die Zielgruppe der 16- bis 25-Jährigen liest nach Angaben des Börsenblatts derzeit besonders gerne „New Adult“-Titel. Hinter in Pastelltönen gehaltenen Buchcovern läuft das Erzählte oft nach bewährten Mustern ab. Die Buchwissenschaft betrachtet das Genre vorurteilsfrei. „Ich schaue mir an, was beliebt ist“, sagt Corinna Norrick-Rühl, die bereits zu Pixi-Büchern und zur Vermarktung der Romane von Drogerie-Besitzer Dirk Rossmann geforscht hat. „Die New-Romance-Titel unterliegen demselben niedrigeren Mehrwertsteuersatz wie eine in Leinen gebundene Neuauflage von Goethes Gesamtwerk“, unterstreicht die Professorin und lächelt: „Es ist derselbe Satz wie für Lebensmittel.“
Autorin: Brigitte Heeke
Zahlen & Fakten:
Bücher sind nicht nur ein Kulturgut, sondern seit jeher auch eine beliebte Ware. Mit einem Umsatz von schätzungsweise rund 9,7 Milliarden Euro verzeichnete der deutsche Buchhandel im Jahr 2023 einen Zuwachs von fast drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt geht die Zahl der Buchkäufe jedoch zurück: Während die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) 2007 rund 33,6 Millionen Buchkäuferinnen und -käufer registrierte, waren es 2023 noch 25 Millionen. Besonders häufig wandert „Der Hobbit“ von J. R. R. Tolkien über die internationalen Ladentheken. Mit schätzungsweise rund 140,6 Millionen verkauften Exemplaren weltweit steht das 1937 erschienene Werk auf Platz eins der meistverkauften Romane.
Viele Bücher werden privat oder in frei zugänglichen Regalen weitergegeben. Schätzungen zufolge hat sich die Zahl der offenen Bücherschränke in den vergangenen zehn Jahren hierzulande auf mindestens 3.000 verdoppelt. Offiziell ausleihen kann man verfügbare Titel in Münster beispielsweise in der Universitäts- und Landesbibliothek oder in der Stadtbücherei.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 2, 2. April 2025.
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