
Ein Fest für die Wissenschaft
Golden glänzen die Mosaiksteinchen in der Fassade des Berliner „Cafe Moskau“ in der Abendsonne. Vor dem Haupteingang des 1964 eröffneten, ehemaligen Restaurants haben sich mehrere Film- und Kamerateams in Stellung gebracht – langsam, aber sicher treffen alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein, die gleich den wichtigsten Forschungspreis Deutschlands erhalten werden. Das Team der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ist bereits seit dem frühen Morgen auf den Beinen und war auch am Vorabend schon vor Ort, um das „Cafe Moskau“, das dem Selbstverständnis nach „mehr als nur eine location ist“, in ein „Café Leibniz“ umzuwandeln.
„Wir feiern schon den ganzen Tag“, begrüßt DFG-Präsidentin Prof. Dr. Katja Becker die Gäste. Denn die Preisverleihung ist nicht nur ein Fest für die Wissenschaft, sondern auch ein runder Geburtstag: Zum 40. Mal verleiht die DFG ihren „sagenhaften“ Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, der mit zweieinhalb Millionen Euro dotiert ist und den Ausgezeichneten viele Freiheiten lässt, um beispielsweise neue Forschungsthemen zu erschließen. 445 Preisträgerinnen und Preisträger gab es seitdem, heute kommen weitere zehn hinzu. Der katholische Theologe Prof. Dr. Michael Seewald von der Universität Münster ist einer von ihnen. Während der Grußworte von Katja Becker, Bundesforschungsminister Cem Özdemir und dem bayerischen Wissenschaftssminister Markus Blume sitzt er im Festsaal in der ersten Reihe.
Während aktuell und früher Ausgezeichnete sich nachmittags austauschen – dabei bleiben Presse und Gäste außen vor – flanieren im Erdgeschoss des „Café Leibniz“ die Besucherinnen und Besucher an einer Galerie der Gruppenfotos entlang. Auf einen Blick ist sichtbar, dass sich seit Mitte der 1980er Jahre etwas verändert hat. Waren die ersten Pressefotos noch schwarz-weiß und zeigten fast ausschließlich Männer, erhielten später häufiger auch Wissenschaftlerinnen den Preis. Die Fotos wechselten von schwarz-weiß zu Farbe. Dieses Jahr sind vier der zehn Ausgezeichneten Frauen.
Die Plakat-Ausstellung „Pfade der Forschung“ gibt Einblicke in die preisgekrönten Arbeiten. Viele bekannte Gesichter haben sich auf den Weg in die Hauptstadt gemacht. So stellt eins der Plakate die Forschung von Prof. Dr. Hubert Wolf von der Universität Münster vor, dessen Projekt „Asking the Pope for Help“ Bittschreiben von im Nationalsozialismus verfolgten Menschen an Papst Pius XII. aus den vatikanischen Archiven ans Licht holt. Der Leibnizpreisträger aus dem Jahr 2003 ist vor Ort und freut sich, dass die katholische Theologie und damit sein eigener Fachbereich im Rampenlicht steht. „Für mich war der Preis ein Türöffner“, unterstreicht der Kirchenhistoriker. „Das ist Champions-League.“ Prof. Dr. Thomas Bauer vom Institut für Arabistik und Islamwissenschaft, Leibnizpreisträger aus dem Jahr 2013, hat die Einladung nach Berlin ebenfalls angenommen. „Ich war damals auf einer Tagung und nebenbei lief mein Handy mit der Nachricht voll“, erinnert sich der Wissenschaftler. „Ich habe nicht damit gerechnet und das Ganze zunächst für einen Scherz gehalten.“ Auch für ihn und sein Fach habe der Preis wichtige Impulse gegeben.
Die Freiheit der Wissenschaft schützen
Zurück in den Saal: In den Beiträgen ist viel von Freiheit die Rede. Die Freiheit der Wissenschaft müsse unmissverständlich geschützt werden, hebt Cem Özdemir hervor. Er betont zudem die wichtige Rolle der Wissenschaft für politische Entscheidungen und für die Zukunft der Gesellschaft. Markus Blume als Vorsitzender der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz gratuliert zur „Geburtstagsfeier der Exzellenz“. Aus den bisherigen Auszeichnungen seien bereits zwölf Nobelpreise entstanden. Mit einem Augenzwinkern wendet er sich an die Preisträger: „Kein Druck…“
Der Saal ist stimmungsvoll beleuchtet, drei Bildschirme übertragen das Bühnengeschehen bis in die hintersten Reihen. Auch im Netz ist die Verleihung zu sehen, live und als Aufzeichnung. Allgemeinverständlich bringen kurze Filme die jeweilige prämierte Forschung auf den Punkt. Die Bandbreite reicht von theoretischer Mathematik über Medizin bis zu Philosophie. Bei so viel Input und in Gesellschaft so vieler kluger Köpfe im voll besetzten Saal merkt man fast, wie der eigene IQ für einen kurzen Zeitraum vielleicht auch um ein paar Nachkommastellen steigt … Der Moderator macht die Probe aufs Exempel und fragt das Publikum: „Na, wer von Ihnen könnte erklären, wie ein Laplace-Operator funktioniert?“ Prompt gehen sechs Hände hoch.
Trotz der festlichen Stimmung ist der Abend getrübt von der schwierigen Lage der Wissenschaft in den USA seit Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Donald Trump. Michael Seewald nimmt in seinem Beitrag darauf Bezug. „Wenn zum Beispiel Vize-Präsident Vance seine Politik unter Verweis auf Augustinus rechtfertigt, ist es gut, dass es einige Leute gibt, die Augustinus gelesen haben und deshalb widersprechen können.“ Für dieses unaufgeregte Statement, das doch alles sagt über die Wichtigkeit von ernsthaftem Verstehen, erhält er reichlich Applaus. Man dürfe die Religion nicht denen überlassen, „die in sehr merkwürdiger Weise davon Gebrauch machen“.
Die Theologie habe „Seltenheitswert“ bei den Leibnizpreisen, unterstreicht Katja Becker. In ihrer Laudatio hebt sie die „Virtuosität“ von Michael Seewalds Arbeit hervor und lobt seine internationale, religions- und fächerübergreifende Forschung. „Auch wenn die kirchliche Glaubenslehre ihren Wahrheitsanspruch in göttlicher Offenbarung gründet, ist sie sowohl in einen historischen Entstehungskontext eingebettet als auch offen für ein neues Verständnis in der Zukunft.“ Michael Seewald zeige innovative Wege auf. „Seine bahnbrechende Forschung spannt einen beachtlichen Bogen von den Kirchenvätern über mittelalterliche Theologen und das prägende 19. Jahrhundert bis hin zu aktuellen Debatten.“ Indem Michael Seewald dogmatische Wahrheitsansprüche thematisiere, eröffne er zugleich neue Perspektiven für mögliche Reformen der Kirche.
Durch die großen Fenster ist der Abendhimmel der Großstadt zu sehen. Das „Leibniz-Ensemble“, bestehend aus Preisträgerinnen, Preisträgern und Profimusikern, rahmt die Veranstaltung mit Arrangements bekannter Songs und Klassiker.
Unter den Geehrten strahlt ein weiterer Wissenschaftler, der vor seinem Wechsel nach Heidelberg von 2015 bis 2021 an der Universität Münster geforscht hat und weiterhin als außerplanmäßiger Professor in Münster tätig ist: Physiker Prof. Dr. Wolfram Pernice beschäftigt sich mit neuronalen Netzwerken – die Erkenntnisse kommen beispielsweise in der Quantenkryptografie zum Einsatz, dienen also der sicheren Datenübertragung. „Ihre Arbeit zeigt, dass der Weg von der Grundlagenforschung zur Anwendung kurz sein kann“, betont Katja Becker. Alle Preisträger verbinde eine Begeisterung, Selbstlosigkeit und Demut, kurz: „die Arbeits- und Lebensweise der Forschung“.
„Forschen Sie in Freiheit!“ Mit diesem Appell ermutigt der Moderator die Stars des Abends. Diese haben nun, so steht es in den Förderbedingungen, sieben Jahre Zeit, um das Preisgeld abzurufen und zugunsten der Wissenschaft zu nutzen.
Über den Preis
Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis wird jährlich verliehen und ist der wichtigste Forschungsförderpreis in Deutschland. Pro Jahr können bis zu zehn Preise mit einer Summe von jeweils 2,5 Millionen Euro verliehen werden. Ziel des Leibniz-Programms ist es, die Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verbessern, ihre Forschungsmöglichkeiten zu erweitern, sie von administrativem Arbeitsaufwand zu entlasten und ihnen die Beschäftigung besonders qualifizierter jüngerer Forscherinnen und Forscher zu erleichtern. Die Förderung wird nur auf Vorschlag Dritter gewährt. Die Entscheidung über die Preisträgerinnen und Preisträger trifft der DFG-Hauptausschuss. Michael Seewald ist die elfte Persönlichkeit der Universität Münster, die mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet wird. Im vergangenen Jahr erhielt die Mathematikerin Prof. Dr. Eva Viehmann diese Auszeichnung.