
„Bei einem Sieg Russlands sind weitere Angriffe zu erwarten“
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine jährt sich heute (24. Februar) zum dritten Mal. Die Osteuropa-Historikerin Prof. Dr. Ricarda Vulpius von der Universität Münster beschreibt im Interview mit Anke Poppen die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung, die aktuellen Friedensgespräche sowie die historische Verantwortung Deutschlands nach den Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts.
Wie ist nach exakt drei Jahren Krieg das Stimmungsbild in der ukrainischen Bevölkerung, vor allem angesichts der jüngsten Entwicklungen zu Friedensverhandlungen?
In der Ukraine herrscht eine große Niedergeschlagenheit. Bisher sind US-amerikanischen Schätzungen zufolge bis zu 70.000 Soldaten gestorben, 12.000 Zivilisten wurden getötet, um die 400.000 Menschen sind verletzt. Aktuell gehen jeden Tag weitere Quadratkilometer an Russland verloren. Die Sehnsucht nach Frieden ist sehr groß, die Bevölkerung will aber einen gerechten und sicheren Frieden. So lange dieser nicht gewährleistet ist, fühlt sich die Situation eher wie die Wahl zwischen Pest oder Cholera an.
Im Zuge der Friedensverhandlungen werden auch Gebietsabtretungen diskutiert. Wären diese auf irgendeine Weise historisch zu rechtfertigen?
Nein, dafür gibt es keine historische Rechtfertigung. Wie sollte diese aussehen? Die historisch stark deutsche Prägung etwa von Elsass-Lothringen würde auch keine Rückgabe an Deutschland rechtfertigen. In allen Landesteilen der Ukraine gibt es eine überwältigende Zustimmung zur Unabhängigkeit. Im Donbass stimmten 1991 über neunzig Prozent der Bevölkerung für eine Zugehörigkeit zu einer unabhängigen Ukraine. Der Krieg, der sich 2014 dort entzündete, wurde von außen hineingetragen, es gab zuvor keinerlei separatistischen Bestrebungen. Selbst auf der Krim hatten sich 1991 noch mehr als die Hälfte der Bewohner für die Zugehörigkeit zu einer unabhängigen Ukraine ausgesprochen. Die Europäische Union hat sich nach den Erfahrungen zweier Weltkriege davon verabschiedet, um Territorien zu feilschen. Russlands Ansprüche richten sich klar gegen den Willen der ukrainischen Bevölkerung sowie gegen das Völkerrecht.
Wie aussichtsreich sind die Sicherheitsgarantien, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zur Verhandlungsbedingung macht, allen voran der NATO-Beitritt der Ukraine?
Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump erleben wir eine zweite Zeitenwende. Die USA befürworteten seit 2008 eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, damals waren Deutschland und Frankreich dagegen. Auch unter Joe Biden hielten die USA an ihrer Haltung fest. Trump wendet sich nun davon ab, aktuell scheint eine Aufnahme unwahrscheinlich. Aber die Ukraine braucht einen robusten Frieden mit belastbaren Sicherheitsgarantien, anders als beim Budapester Memorandum von 1994, als das Land sein Atomwaffenarsenal preisgab und Russland, Großbritannien und die USA dafür der Ukraine territoriale Unversehrheit zusicherten.
Wie kann eine solche Sicherheitsgarantie aussehen?
Die Ukraine braucht dringend bewaffnete Truppen von Drittstaaten, die die Grenzen zu Russland und Belarus absichern und dabei unter dem Nuklearschirm der USA stehen.
Donald Trump hat jüngst Wolodymyr Selenskyj als Diktator bezeichnet und ihm die Schuld am Krieg gegeben. Wie bewerten Sie diese Äußerungen?
Diese Täter-Opfer-Umkehr ist unerträglich. Gleichzeitig ist sie nur bedingt ernst zu nehmen. Hinter diesen Vorwürfen steckt Trumps Interesse, mit Russland zu einem für die USA glimpflichen Ende des Krieges zu kommen, der Russlands Allianzen mit China und dem Iran schwächt und dadurch die eigene Position stärkt. Die Ukraine ist für Trump lediglich ein Spielball. Das bedeutet für uns Europäer, dass wir das Schicksal unseres Kontinents in die eigene Hand nehmen müssen – gerade Deutschland hat eine besondere historische Verantwortung gegenüber der Ukraine.
Worin genau besteht diese historische Verantwortung?
Sie basiert auf mehreren Gräueltaten. Im Ersten Weltkrieg hat Deutschland die Ukraine als Kolonie besetzt und versucht, deren Ressourcen auszubeuten. Während des Zweiten Weltkriegs brachten die Deutschen 1,5 Millionen ukrainische Juden um, zerstörten mehr als 600 ukrainische Ortschaften und deportierten 2,2 Millionen Zwangsarbeiter aus der Ukraine für die deutsche Rüstungsindustrie. Die Bevölkerungsverluste der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs werden auf insgesamt 8 bis 10 Millionen Zivilisten und Militärangehörige geschätzt. Das Bewusstsein dafür ist in Deutschland nach wie vor viel zu gering. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte haben wir nicht nur gegenüber Russland, sondern mindestens genauso stark gegenüber der Ukraine eine historische Verantwortung. Zum einen daraus leitet sich das Gebot ab, die Ukraine maximal zu unterstützen, zum anderen aus ureigenem sicherheitspolitischen Interesse. Denn eines ist offensichtlich: Bei einem Sieg Russlands sind weitere Angriffe zu erwarten.