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Die Olympischen Spiele begleitet eine Streitfrage: Dürfen Transpersonen teilnehmen?<address>© kovop58 - stock.adobe.com</address>
Die Olympischen Spiele begleitet eine Streitfrage: Dürfen Transpersonen teilnehmen?
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„Zurzeit gibt es keine faire Lösung“

Sportwissenschaftlerin Mara Konjer über den Umgang mit Transpersonen im Wettkampfsport

Bei den Olympischen Spielen in Paris gehen in den kommenden Wochen über 10.000 Sportlerinnen und Sportler an den Start. Ein Streitthema ist der Umgang mit intersexuellen und Transgender-Athletinnen. Dr. Mara Konjer ist Sportwissenschaftlerin an der Universität Münster und Vizepräsidentin für Sportentwicklung im deutschen Leichtathletikverband. Mit Hanna Dieckmann sprach sie über die Schwierigkeit, den Konflikt zu lösen, solange es keine Klarheit über die tatsächlichen Vorteile gibt.

Welche Vorgaben zur Teilnahme von trans- und intersexuellen Personen macht das Internationale Olympische Komitee (IOC)?

Es gab Regeln für trans- und intersexuelle Athletinnen, zum Beispiel zur Einhaltung von Testosteronobergrenzen. Diese wurden aber Ende 2022 aufgegeben und durch einen allgemeinen Diversitätsplan ersetzt. Die Diversitätskommission stellte nämlich fest, dass die bisherigen Regelungen nicht zur Vielfalt des Olympischen Sports passen. In Sprint- und Kraftdisziplinen zum Beispiel kann mehr Muskelmasse durch Testosteron ein Vorteil sein, nicht so bei Langstreckenläufen. Außerdem könnten Transathletinnen zum Beispiel in Sportarten wie Schwimmen von mehr Körpergröße und längeren Gliedmaßen profitieren.

Und wie hat das IOC dieses Problem gelöst?

Es überlässt es den Mitgliedsverbänden, unter der Einhaltung bestimmter Werte wie Offenheit und Fairness Regelungen zu finden. Ich fürchtete damals schon, dass diese Entscheidung nicht zu mehr Inklusion, sondern zu Ausschlüssen führen würde. Darüber sprach ich mit Magali Martowicz, sie ist ,Head of Human Rights‘ beim IOC. Sie war durch zahlreiche intensive Gespräche mit den Mitgliedsverbänden davon überzeugt, dass sie sich für diese Thematik öffnen würden.

Dr. Mara Konjer<address>© privat</address>
Dr. Mara Konjer
© privat

Hat sich das bewahrheitet?

Nein. In zehn Sportarten ist der Zugang stark beschränkt oder verboten, zum Beispiel im Schwimmen. Aus meiner Sicht war der Versuch der Öffnung durch das IOC aufrichtig. Zugleich war es naiv, zu glauben, dass die Verbände progressiver reagieren würden. Für sie war die Vorgabe des IOC eine Art Freifahrtschein, um sich mit dem Thema Transpersonen im Wettkampfsport nicht mehr beschäftigen zu müssen. Mir ist im Übrigen keine Transperson bekannt, die in Paris startet.
 

Gab es Proteste gegen die Ausschlüsse?

Ja, aus den jeweiligen Gruppen und deren Unterstützern. Daraufhin hat sich der Schwimmverband wieder ein bisschen geöffnet. Er hat zum Beispiel eine dritte Kategorie eingeführt, um Personen, die weder im Männer- noch im Frauenwettbewerb starten können beziehungsweise wollen, gerecht zu werden. Mein Eindruck ist aber, dass das eher ein symbolischer Akt war. Denn gleichzeitig verlangen sie eine bestimmte Anzahl von Teilnehmerinnen für diese Kategorie. Aber diese Grenze wird niemals erfüllt, weil es zu wenige Athletinnen gibt, die das betrifft.   

Was macht eine faire Lösung so schwierig?

Zum einen reden wir über 32 olympische Sportarten und 48 Disziplinen. Die körperlichen Anforderungen sind so unterschiedlich, dass es schwierig ist, allgemeingültige Aussagen zu treffen. Nicht in allen Sportarten profitieren Athletinnen von mehr Muskelmasse, Größe oder Gewicht. Zum anderen soll der Sport für alle gerecht sein. Trans-Athletinnen fehlt die Lobby, weil es nur wenige gibt – gesamtgesellschaftlich betrachtet, betrifft zum Beispiel Intersexualität nur ungefähr 0,1 Prozent. Der Sport ist anscheinend noch nicht so weit, über den Tellerrand zu schauen.

Nutzen die Verbände die fehlende Klarheit als Ausrede?

Als Ausrede würde ich das nicht bezeichnen. Aber die Verantwortlichen stellen sich auf den Standpunkt, dass sie ihre Athletinnen schützen müssen, solange wissenschaftlich nicht festgestellt ist, welche Vorteile die Teilnahme von intersexuellen oder Trans-Athletinnen in weiblichen Wettkämpfen gibt. Ein bekanntes Beispiel ist Caster Semenya, eine intersexuelle südafrikanische Läuferin. Mit 18 Jahren gewann sie im Jahr 2009 in Berlin das 800-Meter-Rennen bei den Weltmeisterschaften mit 50 Metern Vorsprung. Die Debatten danach waren heftig. Ihr wurde wegen ihres männlich gelesenen Äußeren, ihrer ausgeprägten Muskulatur und der tiefen Stimme Doping vorgeworfen. Ein Jahr später outete der Weltverband sie als intersexuell, was sie selbst damals nicht wusste. Denn der Verband hatte im Rahmen eines offiziellen Dopingtests heimlich einen Geschlechtstest vorgenommen, ein im Übrigen unethisches Verhalten. Ein Großteil der Kolleginnen von Caster Semenya drohte damals damit, nicht mehr anzutreten, solange sie weiter starten darf.  Seit 2019 darf sie das bei internationalen Wettbewerben nicht mehr und hat mittlerweile ihre Karriere beendet.

Gibt es denn keine positiven Beispiele?

Doch. Im Amateurbereich und dort vor allem in Mannschaftssportarten scheint es einfacher zu sein, weil zusätzliche Aspekte für den sportlichen Erfolg wichtig sind, zum Beispiel das Gemeinschaftsgefüge. Den Deutschen Fußballbund (DFB) nehme ich als Vorreiter wahr: Bei den Amateuren können sich Personen geschlechtsunabhängig zuordnen. Der DFB spricht davon, dass die Wettkampfintegrität dadurch nicht eingeschränkt werde. Aber die positiven Erfahrungen aus dem Breitensport lassen sich nicht einfach auf den Leistungssport übertragen, und vor allem in Individualsportarten scheint die Geschlechterthematik ein schier unlösbares Problem zu sein.

Was kann die Wissenschaft zur Lösung beitragen?

Sie sollte eine Basis herstellen, auf der sich Entscheidungen begründet treffen lassen. Das steht und fällt mit der Förderung, und die ist aufwendig und teuer. Es gibt bisher nur kleine Studien, die nicht repräsentativ sind. Wir brauchen aber übertragbare Daten, welche Vorteile Transathletinnen tatsächlich haben, wenn sie die Transition nach der Pubertät abgeschlossen haben. Erst dann kann es individuelle Regeln geben. Die Wissenschaft sollte Antworten liefern, sie kann es aber derzeit nicht. Solange wir keine gesicherte, generalisierbare Datenlage haben, wird es keine grundlegenden Veränderungen geben. Also ist es für den Sport und die große Mehrheit der Sportlerinnen wahrscheinlich die einfachste und fairste Lösung. Aber sie schließt eben auch eine Gruppe aus. Das kann und sollte man kritisieren, aber ich verstehe auch die Argumente.

Sie klingen pessimistisch, wenn es um eine inklusive Lösung und die Rolle der Wissenschaft darin geht ...

Es wird zukünftig sicher mehr Fördergeld geben. Aber es ist wahr: Ich fürchte, dass es zurzeit keine für alle Beteiligten faire Lösung gibt. Auch die Wissenschaft wird daran so schnell nichts ändern können, denn es gibt zwei große Probleme. Zum einen die schon angesprochene Frage der Finanzierung von Studien. Das IOC hat das Geld nicht und da diese Studien aufwendig und teuer wären, müsste es von irgendwoher ein Interesse geben, zu investieren. Das ist nicht zu erwarten, weil die Athletinnen eine zu kleine Lobby haben. Zum anderen gibt es so viele Parameter, die man selbst in der Sportwissenschaft oder Sportmedizin nicht alle kennt und deren Wirkung wir deshalb nicht realistisch einschätzen können. Für jede Sportart müsste individuell geforscht werden, denn Körpergröße, Kondition, Muskeln, lange Gliedmaßen spielen nicht in jeder Sportart gleichermaßen eine Rolle. Man kann sich selbst in der Wissenschaft aktuell nicht vorstellen, wie man vorgehen müsste, um eine wirklich belastbare Studienlage für die einzelnen Verbände herzustellen.

Werden in der Wissenschaft Optionen diskutiert, die andere Perspektiven bieten?

Ja, wir diskutieren über zwei radikale Optionen. Erstens: Man schafft die Kategorie Geschlecht im Wettkampfsystem komplett ab. Dazu gibt es übrigens interessante Studien, die nahelegen, dass die große Leistungsdifferenz zwischen Frauen und Männern – zumindest in einigen Sportarten – hauptsächlich auf 50 Jahre Vorsprung der Forschung im Männerbereich zurückzuführen ist. Die zweite Option wäre, den Leistungssport als solchen abzuschaffen.

Das dürfte kaum durchzusetzen sein – auch bei den Konsumenten ...

Das ist ein wichtiger Punkt. Meine Studierenden haben Umfragen mit Zuschauern, Athletinnen und Verbänden gemacht, die sehr ernüchternd sind: Je älter und männlicher, desto verschlossener stehen sie der Inklusion gegenüber. Je jünger und weiblicher, desto offener die Haltung. Da erstere jedoch die Hauptgruppe der Konsumenten sind, wäre ein progressiverer Umgang mit der Thematik für die Verbände auch ein Risiko. Und auch dort finden sich in den entscheidenden Positionen immer noch oft ältere Männer. Dazu kommen dann oft noch Sponsoren mit konservativen Werten – eine schwierige Gemengelage, um mutige, innovative Wege zu gehen.

Wird bei aller berechtigten Kritik möglicherweise zu viel vom Sport verlangt?

Ja, der Anspruch an den Sport ist zu hoch. Es ist aus meiner Sicht nicht ganz fair, zu glauben, dass der Sport ein so großes Problem, das weit über ihn hinausgeht, lösen kann. Gleichzeitig will der Sport aber auch eine moralische Instanz sein. Er wird von außen überfrachtet und überlastet sich selbst. Dann kommt hinzu, dass Sportverbände – ob man es glaubt oder nicht – nicht gerade professionell geführte Institutionen sind. Sie beruhen größtenteils auf Ehrenamtlichkeit. Dass es dann öfter zu naiven und nicht ganz durchdachten Entscheidungen kommt, ist nicht verwunderlich. Das sind Menschen, die ihre Freizeit für ihren Sport opfern. Es sind nicht immer die, die für den Job am besten ausgebildet sind, aber es sind die, die bereit sind, ihn zu machen. Man ist auf unbezahlte Arbeit angewiesen, so funktioniert der Sport nach wie vor.

Sie sind Wissenschaftlerin und gleichzeitig Vizepräsidentin für Sportentwicklung im deutschen Leichtathletikverband. Welche Erfahrungen machen Sie dort mit dem Thema?

Ich bin Teil eines ehrenamtlichen Aufsichtsgremiums und in dieser Funktion auch Mitglied der Kommission Gleichstellung, die sich gerne mehr mit der Thematik rund um Transpersonen auseinandersetzen möchte. Aber auch wir warten auf den Präzedenzfall. Es gibt in Deutschland wahrscheinlich nicht viele Personen, die es im Spitzensport betrifft. Daher finden wir nur wenige betroffene Ansprechpartnerinnen – sowohl in der Forschung als auch in der Verbandsarbeit.

Wie nutzen Sie Ihre Doppelrolle?

Ich kann den Verband mit wissenschaftlicher Distanz beraten und Anstöße von dort in meine Forschung einfließen lassen. Wenn ich von außen auf die Debatte blicke, denke auch ich: Das muss doch zu lösen sein. Aber von innen sieht es deutlich komplizierter aus.

Eine kurze Version dieses Artikels stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 17. Juli 2024.

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