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Münster (upm).
Poster der IDS-Jahrestagung<address>© Norbert Cußler-Volz, IDS</address>
Poster der IDS-Jahrestagung
© Norbert Cußler-Volz, IDS

„Sprachen dienen der Verständigung und nicht dem Richtigmachen“

Jahrestagung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache: Germanist Jens Lanwer über aktuelle Trends

Die gesprochene Sprache steht in diesem Jahr im Mittelpunkt der 60. Jahrestagung des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache. Zwei Beiträge zum Tagungsprogramm kommen aus dem Germanistischen Institut der Universität Münster: Dr. Katharina König stellt heute (7. März) Erkenntnisse über sogenannte Bestätigungsfragen in der gesprochenen Sprache vor. Dr. Jens Lanwer referierte über seine empirische Forschung über sprachstrukturelle Phänomene. Im Gespräch mit Brigitte Heeke gibt er einen Einblick in sein Fach und aktuelle Sprachentwicklungen.

Welche Trends gibt es zurzeit in der deutschen Sprache?

Das ist schwierig zu beantworten, da es nicht ,die eine deutsche Sprache‘ gibt. Gerade die gesprochene Sprache ist sehr unterschiedlich, beispielsweise je nach Region. Eine langfristige Entwicklung, die mir derzeit auffällt, ist der Schwund des Präteritums. Diese Vergangenheitsform ist aus der Mode gekommen. In der Standardsprache, was immer das auch ist, gibt es sie einschlägigen Grammatiken zufolge noch regulär, etwa ,ich ging‘. Im mündlichen Sprachgebrauch ist aber mittlerweile auch im Norddeutschen ein deutlicher Rückgang solcher Formen zu beobachten. Man vermutet, dass die Entwicklung ursprünglich aus dem Süden kommt. Wenn man Gespräche in Norddeutschland verfolgt, wird deutlich: Die Verdrängung durch die Perfektform ,ich bin gegangen‘ ist in vollem Gange, verläuft aber von Wort zu Wort und von Region zu Region unterschiedlich.

Woran merken wir diesen Sprachwandel?

Dass es sich um einen Wandel handelt, kann man daran ablesen, dass jüngere Menschen beispielsweise die Form ,machte‘ nicht mehr verwenden. Sie sagen ausschließlich ,gemacht‘. Das ist tatsächlich in allen Regionen gleich. Bei uns hier im Nordwesten Deutschlands scheint der Abbau des Präteritums weit fortgeschritten. Besonders Grundschulkinder kennen Formen wie etwa ,du aßt‘ oft nicht mehr, weil sie um sich herum nur noch das Perfekt ,du hast gegessen‘ hören. Die Schriftsprache ist dagegen immer konservativer. Das zeigt sich unter anderem darin, dass in Untertiteln, aber auch in Synchronisationen, die geskriptet sind, immer noch das Präteritum dominiert – beispielsweise bei der Synchronisation von englischen Filmen und Serien. Das klingt in meinen Ohren fremd und gehört für mich in die Schriftsprache, aber nicht mehr in ein Gespräch.

Wann verwende ich denn Präteritum und wann Perfekt?

Dr. Jens Lanwer<address>© privat</address>
Dr. Jens Lanwer
© privat
Theoretisch hängt daran eine ähnliche Funktion wie im Englischen, also dass man damit die Abgeschlossenheit beziehungsweise Unabgeschlossenheit von Ereignissen ausdrückt. Aber diese vermeintlich eindeutige Unterscheidung aus den Lehrbüchern scheint in der Praxis nicht immer zu stimmen. Zudem gibt es auch dazu regionale Variationen. Interessant ist, dass der Duden dem Präteritum neben dem Ausdruck von Abgeschlossenheit auch die Funktion als ,Erzähltempus‘ zuschreibt. Mir scheint, dass dies zumindest in unserer Region die dominante Funktion ist. Ich habe auch den Eindruck, dass Kinder die Präteritumsformen durch das Vorlesen aus Büchern lernen und versuchen, sie in den Alltag einzubauen, wenn sie beispielsweise schriftliches Erzählen ,inszenieren‘. Dabei kommt es zu Formen wie ,gehte‘, die sie in Analogie zu anderen Verbformen bilden, die sie bereits kennengelernt haben, etwa ,legte‘ oder ,spielte‘. Solche Übergeneralisierungen sind normal für den Spracherwerb. Bei meinen Kindern ist mir aufgefallen, dass das Präteritum sehr spät hinzugekommen ist und mit Wucht die Grammatik der Kinder durcheinandergebracht hat. Die Struktur war neu für sie. Solche Dinge muss man beachten, wenn man Kinder und Jugendliche in ihrer sprachlichen Entwicklung begleiten und unterstützen will. Wir legen in Münster den Studierenden daher immer nahe, eine kritische Haltung zu Lehrmeinungen zu entwickeln.

Woher kommen solche Veränderungen, und wäre es nicht praktischer, dass alles so bleibt, wie es ist?

Die Sprache existiert dadurch, dass wir sie sprechen. Es gibt nur zwei Optionen: Entweder eine Sprache verändert sich, oder sie stirbt aus. Grundsätzlich kann man sagen, dass sich auch die Grammatik verändert, sobald sich die Gebrauchsstatistik verändert. Vor allem die gesprochene Sprache lässt sich daher nicht regulieren, weil sie in der ,freien Wildnis‘ stattfindet. Im Grunde regulieren sich gesprochene Sprachen selbst. Niemand muss Angst haben, dass die Sprache kaputt geht. Sie kann immer genau das, was sie können muss. Sprachen dienen schließlich der Verständigung und nicht dem Richtigmachen. Diese Erkenntnis würde auch bei der Integration helfen. Man müsste die Lehrmaterialien beispielsweise deutlich stärker mit Erkenntnissen über den alltäglichen, mündlichen Sprachgebrauch unterfüttern.

Bei Ihrem Vortrag geht es um eine bestimmte Verwendung des Wortes ,aber’. Was ist damit gewonnen, so sehr ins Detail zu gehen?

Jedes Wort hat seine eigene Geschichte. Die Grammatik erschließt, was wir jeden Tag erleben. Deshalb ist es wichtig, die Details in den Blick zu nehmen. Sätze wie ,Das Zimmer ist ja ganz schön klein, aber…‘ gibt es in vielen Sprachen. Ich habe oft beobachtet, dass auf ,aber’ eine Pause folgt. Es kann aber durchaus weitergehen. Es handelt sich demnach sowohl um ein Ausstiegsangebot als auch um ein Angebot, weiterzusprechen, etwa mit dem Zusatz ,… 13 Quadratmeter reichen doch‘. Insofern ist eine solche Struktur maximal unklar. Das ist vermutlich auch genau das, was sie leisten soll: eine Möglichkeit für den Fortgang des Gesprächs zu verhandeln. Wir untersuchen, wie Sprache verwendet wird. Das geht konkret in die Praxis über. Solche Strukturen können unproblematisch auch im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht vermittelt werden – wir müssen sie nur kennen. Der Schweizer Germanist Walter Haas hat gesagt, dass es erschreckend sei, wie wenig wir über das tatsächliche Deutsch wissen, das im Alltag gesprochen wird. Das stimmt so sicher nicht mehr. Aber der Wissenschaftstransfer, also der Transfer in die relevanten Anwendungsbereiche, ist immer noch schwierig. Die Strukturen gesprochener Sprache haben stets ein großes Irritationspotenzial, auch innerhalb der Sprachwissenschaft. Darum ist es gut, dass das Thema durch diese Jahrestagung eine größere Öffentlichkeit erlangt.

Vielen Dank für das Gespräch und ciao, ciao!

Dass Sie diese Abschiedsformel verwenden, passt gut zum Thema, denn dabei handelt es sich tatsächlich um einen aktuellen Trend, wahrscheinlich ist es eine Modeerscheinung. Zunächst habe ich es nur von Jüngeren aus großen Städten wie Köln oder Berlin gehört. Jetzt kommt es nach meinem Eindruck überall und in allen Altersgruppen vor, es kommt somit zur Diffusion. Solche Entwicklungen können sehr schnell ablaufen, wenn es um Strukturen geht, die nicht so tief in der Grammatik einer Sprache verankert sind. Bei dem Präteritumsschwund ist genau das aber der Fall. Das hat daher etwas länger gedauert beziehungsweise dauert immer noch an. Wahrscheinlich fing es schon 16. Jahrhundert an, dass das Perfekt das Präteritum verdrängt hat. Im Lehrplan an den Grundschulen scheint es aber noch nicht angekommen zu sein.

Hintergrund:

Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim ist eine gemeinsam vom Bund und allen Bundesländern getragene zentrale wissenschaftliche Einrichtung zur Dokumentation und Erforschung der deutschen Sprache in Gegenwart und neuerer Geschichte. Das Forschungsinstitut bietet auch eine Sprachberatung an, ist jedoch nicht normativ. Eine Abteilung forscht zu Korpusgrammatik, die Experten untersuchen somit, wie Sprache funktioniert. Auch am Germanistischen Institut der Universität Münster gibt es einen solchen Forschungsschwerpunkt in der Sprachwissenschaft. Das IDS gehört zu den über 90 Forschungs- und Serviceeinrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft. An der Jahrestagung nehmen rund 400 Gäste aus über 20 Ländern teil.

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