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Münster (upm/anb).
Julian Tsapir klärt mit seiner Arbeit über Antisemitismus auf.<address>© WWU - SP</address>
Julian Tsapir klärt mit seiner Arbeit über Antisemitismus auf.
© WWU - SP

„Antisemitismus muss eine Rolle in der Lehrerbildung spielen“

Interview mit Julian Tsapir, Bildungskoordinator für den deutschsprachigen Raum, Yad Vashem

Antisemitismus und Verschwörungsmythen standen im Mittelpunkt einer gut besuchten Veranstaltung im Hörsaal H 1 der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Den Tag der „Resilienz gegen Antisemitismus“ organisierten die Polizei Münster, die Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW sowie die WWU. Zu den Rednern gehörte Julian Tsapir von der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Im Interview mit André Bednarz von der Stabsstelle für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der WWU erklärt der Bildungskoordinator für den deutschsprachigen Raum, welchen Beitrag Universitäten im Kampf gegen Antisemitismus leisten können.

Herr Tsapir, Sie sind zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres in Münster, um über Antisemitismus zu sprechen. Warum?

Ich bin der Einladung nach Münster erneut gefolgt, da mir die Prävention von Antisemitismus sehr am Herzen liegt. Es stimmt mich zuversichtlich, zu sehen, dass das Thema an der Universität ernst genommen wird.

Laut „Nationaler Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“ der Bundesregierung aus dem Jahr 2022 gehören Aufklärung, Bewusstseinsbildung und Stärkung des Engagements gegen Antisemitismus zu den Zielen der präventiven und pädagogischen Arbeit. Wie können Universitäten als Forschungs- und Bildungseinrichtungen bei diesen Vorhaben helfen?

Antisemitismus muss eine Rolle in der Lehrerbildung spielen. Lehrerinnen und Lehrer geben in Umfragen zu dem Thema eine große Hilflosigkeit an. Sie brauchen Werkzeuge, mit denen sie zum einen Antisemitismus erkennen und so Debatten um Definitionen angemessen begegnen können. Zum anderen brauchen sie Mittel, um das Thema im Unterricht mit den Schülern anzugehen. Die angehenden Lehrer brauchen Möglichkeiten, über Antisemitismus aufzuklären, Handlungsoptionen aufzuzeigen und den Betroffenen zu helfen. Außerdem sollten Universitäten Gruppen unterstützen, die sich aktiv gegen Antisemitismus wenden.

Studien zeigen, dass das Wissen von Schülern über den Holocaust in Deutschland abnimmt, die Bereitschaft, etwas darüber zu lernen, jedoch hoch ist. Wie kann dieses Potenzial genutzt werden?

Dieses Interesse der jungen Leute muss auf jeden Fall ernst genommen werden. Man darf sich nicht scheuen, das Thema anzusprechen. Dafür müssen die Lehrer allerdings überhaupt erstmal wissen, was Antisemitismus ist, und für die Perspektive der Betroffenen sensibilisiert werden. Es braucht Module im Lehramtsstudium, die die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus mit ihren Entwicklungen und Ausdrucksformen vermitteln. Zudem müssen Strategien für den Umgang mit Antisemitismus gelehrt werden. Hierbei ist darauf hinzuweisen, auf welchem Vorstellungssystem Antisemitismus beruht. Das ist in Teilen anders als bei anderen Formen von Menschenfeindlichkeit, etwa Rassismus.

Können Sie das ausführen?

Während Rassismus sich meist durch Abwertung und Stereotypisierung von als anders wahrgenommenen Menschen ausdrückt, imaginiert der Antisemitismus jüdische Kollektive oder „das Jüdische“ oft als eine mächtige, verschwörerische Bedrohung. Bei Verschwörungserzählungen während der Coronapandemie oder auch bei manchen Menschen, die sich vermeintlich politisch zum Staat Israel äußern, können wir Beispiele dafür finden, wie seit Hunderten von Jahren bestehende antisemitische Motive auf aktuelle Bezugspunkte angewandt werden. Und in den Manifesten und Taten von rechtsextremen Terroristen wie dem Attentäter von Halle können wir beispielsweise sehen, wie rassistische und antisemitische Vorstellungen in einem mörderischen Menschenhass zusammenwirken können. Aufgrund der unterschiedlichen Entstehungsgeschichte, der teilweise unterschiedlichen Funktion, die sie erfüllen für die sich antisemitisch oder rassistisch äußernden Menschen, und unterschiedlicher Vorstellungen über die hier als anders wahrgenommenen Menschen kann man Rassismus und Antisemitismus nicht durch dasselbe Paradigma verstehen. Beide Phänomene müssen in Ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden verstanden und gelehrt werden, um sie zu erkennen und zu bekämpfen.

Welches Wissen und welche Kompetenzen mit Blick auf Judentum und Antisemitismus sollten Universitäten den Studierenden für den späteren Schulalltag vermitteln?

Zum einen muss man die jüdische Geschichte vermitteln – und diese sichtbar machen als Teil der allgemeinen Geschichte der Menschheit und der deutschen Geschichte und diese nicht nur durch Zeiten der Verfolgung kennenlernen, wie dem Mittelalter oder dem Holocaust. Von der Bedeutung, Werkzeuge zu vermitteln, mit denen man Antisemitismus erkennen kann, habe ich bereits gesprochen. Was mir an dieser Stelle aber noch wichtig ist: Die angehenden Lehrer müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln können, dass Juden in ihren Klassen sein können. Manche von ihnen verstecken ihr Jüdischsein aus Angst vor Diskriminierung – etwa weil „Jude“ auf einigen Schulhöfen und in einigen Klassenräumen als Schimpfwort benutzt wird.

An wen muss sich dieses Angebot der Universitäten richten?

An alle Lehramtsstudierenden. Denn in der Schule sollten alle Lehrkräfte Wissen zu Antisemitismus und zum Holocaust haben und in der Lage sein, darauf zu reagieren, zumal in aktuellen Formen des Antisemitismus ja auch auf den Holocaust Bezug genommen wird. Dies kann nur gelingen, wenn alle zusammenarbeiten. Dabei muss nicht jede Lehrperson eine pädagogische Intervention durchführen können, aber zumindest sollte jede von ihnen informiert sein, die wichtigen Punkte verstehen und die Arbeit mittragen.

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