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Münster (upm/nor).
Rund 10.000 Bittbriefe wie diesen haben jüdische Menschen während des Zweiten Weltkriegs an Papst Pius XII. geschrieben.<address>© WWU - Norbert Robers</address>
Rund 10.000 Bittbriefe wie diesen haben jüdische Menschen während des Zweiten Weltkriegs an Papst Pius XII. geschrieben.
© WWU - Norbert Robers

Wie Forscher die Vatikan-Reaktionen auf Bittbriefe von Juden bewerten

Erste Erkenntnisse des Projekts „Asking the Pope for help“: Karitative Haltung der Kurie während der NS-Zeit deutlich erkennbar

Noch hat das Forscherteam um den Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf erst 850 der geschätzt rund 10.000 Bittbriefe, die jüdische Menschen während des Zweiten Weltkriegs an Papst Pius XII. geschrieben haben, gelesen und ausgewertet. Aber für die Experten des im Oktober 2021 gestarteten Projekts „Asking the Pope for help“ zeichnen sich danach bereits erste Tendenzen und Erkenntnisse ab. „Die Kurie hat trotz der Vielzahl der Bittbriefe keineswegs pauschal reagiert, sie hat sich vielmehr mit jedem Fall individuell beschäftigt“, berichtet Projekt-Mitarbeiterin Dr. Elisabeth-Marie Richter. Dabei gelte es zu berücksichtigen, dass der Anteil der Hilferufe jüdischer Menschen nur etwa drei Prozent aller Bittbriefe an den Vatikan während des NS-Regimes ausgemacht habe; dies verdeutliche, wie groß die Zahl der Appelle war, die seinerzeit den Heiligen Stuhl erreicht habe.

Auch zu der Frage, welche Grundhaltung der Papst und der Vatikan gegenüber diesen Ersuchen hatte, haben die Wissenschaftler eine eindeutige Meinung. Man müsse dabei allerdings streng zwischen der politisch-öffentlichen Ebene und den konkreten Reaktionen auf die einzelnen Briefe unterscheiden, betont Projektleiter Hubert Wolf, der an der WWU das Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte leitet. „In der Öffentlichkeit hat sich Papst Pius XII. aus Sorge vor einer Instrumentalisierung seiner Äußerungen und einem Erstarken des sogenannten ,Bolschewismus‘ sehr zurückgehalten. Er hat mit Ausnahme seiner Weihnachtsansprache von 1942, in der er die Verbrechen der Nazis auch nur indirekt kritisierte, geschwiegen“, betont er.

Das sei auch eine Konsequenz daraus, dass er während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1917 als Nuntius im Deutschen Reich mit einer Friedensinitiative gescheitert sei, was eine Art Trauma in ihm ausgelöst habe. „Auf der anderen Seite erkennen wir bei der bisherigen Analyse der Bittbriefe und der Reaktionen des Vatikans darauf eine überraschend große und starke Hilfsbereitschaft jedem Einzelnen gegenüber – gleich, ob es sich um getaufte oder ungetaufte Juden gehandelt hat.“

Es sei allerdings falsch, sich bei der Bewertung der vatikanischen Konsequenzen allein auf den Papst zu konzentrieren. Hubert Wolf hält es für nahezu ausgeschlossen, dass es eine schriftliche Instruktion des Oberhaupts der katholischen Kirche an die Kurie oder weitere katholische Verantwortliche gegeben habe, wie man mit derartigen Ansinnen grundsätzlich umzugehen habe. „Es gab auch in der Kurie Freunde der Juden und Antisemiten. Aber ihnen allen stand der kirchliche Auftrag und die Verpflichtung vor Augen, einzelnen Menschen in Not möglichst schnell und umfassend zu helfen, gleich welcher Nationalität sie waren oder welcher Ethnie sie angehörten. Diese karitative Grundhaltung ist deutlich zu erkennen.“

Nach rund anderthalb Jahren der Archivarbeit in Rom haben die Mitarbeiter auch einen ersten Eindruck von der Dimension des Projekts. In nahezu jedem Bittbrief finden sich Hinweise auf weitere Schreiben und Dokumente, die die Experten suchen und auswerten müssen. So hat das Team neben den bislang erfassten 850 Bittbriefen knapp 3.800 weitere Dokumente aufgenommen.

In ihrer Datenbank haben die Mitarbeiter bislang die Namen von 2.200 unterschiedlichen Personen verzeichnet; dazu haben sie im Jahr 2022 allein im Apostolischen Archiv 450 sogenannte Archivschachteln durchgearbeitet, in denen jeweils bis zu 1.000 Blatt liegen. „Es ist ein wissenschaftlich hochinteressantes und zeitgeschichtlich außerordentlich wichtiges Projekt“, unterstreicht Hubert Wolf. „Aber es ist auch ein Projekt, das viel Zeit in Anspruch nehmen wird – es wird sicher länger als die bislang prognostizierten zehn Jahre dauern.“

Autor: Norbert Robers

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 3. Mai 2023.

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