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Münster (upm/nor).
Elisabeth-Marie Richter (l.), Sascha Hinkel und Judith Schepers studieren Akten im Jesuiten-Archiv.<address>© WWU - Norbert Robers</address>
Elisabeth-Marie Richter (l.), Sascha Hinkel und Judith Schepers studieren Akten im Jesuiten-Archiv.
© WWU - Norbert Robers

Auf den Spuren von Mussolinis Beichtvater

Reportage aus Rom: Wie ein Universitätsteam in Vatikanarchiven forscht

In den Jahren des NS-Terrorregimes von 1933 bis 1945 wandten sich rund 15.000 jüdische Menschen per Brief an Papst Pius XII. – in vielen Fällen waren es die letzten Texte, die sie vor ihrer Deportation oder Ermordung schrieben. Diese Briefe sind seit dem 2. März 2020 zugänglich. Ein Team um den Direktor des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster, Prof. Dr. Hubert Wolf, sichtet die Schreiben und wertet sie im Projekt „Asking the Pope for help“ wissenschaftlich aus. Norbert Robers hatte die Gelegenheit, den Forscherinnen und Forschern in den vatikanischen Archiven über die Schulter zu schauen.

 

Das Projekt

Darauf haben Wissenschaftler weltweit gewartet: Im März 2019 kündigt Papst Franziskus an, dass der Vatikan die Unterlagen über Papst Pius XII. am 2. März 2020 und damit genau 81 Jahre nach Beginn dessen Pontifikats freigeben werde. Mehrere Hundert Forscher bewerben sich nach dieser Ankündigung darum, in Rom auf Spurensuche in Millionen von Dokumenten zu gehen. Sie wollen vor allem nachvollziehen, was der Papst konkret über den Holocaust wusste und welche Beweggründe er für sein damaliges Handeln hatte.

Die Briefe – hier vom 23. März 1939 – sind oft schwer zu entziffern.<address>© WWU - Norbert Robers</address>
Die Briefe – hier vom 23. März 1939 – sind oft schwer zu entziffern.
© WWU - Norbert Robers
Am 2. März 2020 studieren auch Hubert Wolf und seine Mitarbeiter die ersten Akten, Briefe und Vermerke im „Apostolischen Vatikanischen Archiv“ (AAV). „Auf diesen Tag haben wir uns zehn Jahre lang vorbereitet“, erinnert sich Hubert Wolf an diesen damaligen Montag genau. Dass der Vatikan den münsterschen Experten einige der begehrten Plätze zugewiesen hat, ist keine Überraschung: Hubert Wolf gilt weit über Münster hinaus als Vatikan-Kenner. Er hat bereits die Berichte, die Eugenio Pacelli – der spätere Papst Pius XII. – als Nuntius in Deutschland von 1917 bis 1929 an die Kurie gesandt hat, in einer kritischen Online-Edition erfasst und ausgewertet. Das Team der Universität Münster hat zahlreiche Ideen für mögliche Projekte im Hinterkopf: ein detaillierter Bericht über Pius‘ Schweigen während der NS-Zeit beispielsweise, möglicherweise einen Beitrag über die sogenannte „Rattenlinie“, also die Frage, ob Naziverbrecher wie Josef Mengele oder Adolf Eichmann mit Wissen des Vatikans 1945 Pässe für ihre Flucht erhalten haben. Doch es kommt anders. Am zweiten Arbeitstag entdeckt das Team die ersten Bittbriefe, in denen die Autoren ihrer Verzweiflung und Todesangst auf eindringliche Weise Ausdruck verleihen. „Noch am selben Abend haben wir gemeinsam entschieden, dass es viel wichtiger ist, diesen Menschen ihre Stimme zurückzugeben, als eine weitere Papst-Biografie zu schreiben“, berichtet Dr. Barbara Schüler, die das Projekt koordiniert. „Uns war sofort klar: Dieses Thema ist für uns als Theologen und Historiker ein Geschenk Gottes“, ergänzt Hubert Wolf.

Nur wer bezahlt dieses Geschenk? Hubert Wolf und Barbara Schüler werden fündig. Die ersten Recherchen nach der Öffnung der Archive finanzierte die „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“. Es ist aber vor allem die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ (EVZ), die eine Millionenförderung übernimmt. Als glückliche Fügung erweist sich dabei, dass Annette Schavan dem EVZ-Kuratorium vorsteht – als ehemalige Bundesbildungsministerin und Botschafterin beim Heiligen Stuhl steht sie dem Vorhaben positiv gegenüber. „Ohne Annette Schavans Engagement gäbe es das Projekt nicht“, urteilt Hubert Wolf. Für die digitale Unterstützung steigt der Walldorfer Softwarekonzern SAP ein.

Das Team

Jetzt zahlt sich aus, dass Hubert Wolf seit dem Pacelli-Projekt ein in Archivarbeit erfahrenes Team hat, das zudem verschiedene Fachrichtungen wie etwa Theologie, Romanistik, Geschichte und Informatik abdeckt und mehrere Sprachen beherrscht, beispielsweise Italienisch, Französisch, Polnisch, Englisch, Latein. Neben Barbara Schüler zählen dazu Jana Haack, Dr. Sascha Hinkel, Maik Henning Kempe, Dr. Elisabeth-Marie Richter, Dr. Judith Schepers sowie mehrere Hilfskräfte. „Die Arbeit in den Archiven ist komplex“, unterstreicht die Theologin Judith Schepers. „Was für andere ein Zufallsfund ist, glückt uns schneller – das spart Zeit und garantiert eine hohe Qualität.“

Die Arbeit

Von ihrem Hotel in der Borgo Vittorio sind es nur wenige Fußminuten in das mit 0,44 Quadratkilometern und gut 600 Einwohnern kleinste Land der Erde, in dem von hohen Mauern umgebenen Vatikanstaat. Eine ideale Lage. Meist arbeiten die Team-Mitglieder für ein bis zwei Wochen allein oder zu zweit vor Ort. Zu den wichtigsten Arbeitsorten gehören das AAV, in dem 85 Regalkilometer Akten lagern – darunter 400.000 „Schachteln“ aus dem Pontifikat Pius‘ XII. mit jeweils mehreren Tausend Blatt Papier –, das „Historische Archiv des Staatssekretariats“, das Jesuiten-Archiv und das Archiv der „Propaganda Fide“, in dem die Unterlagen aus allen Ländern, in denen die katholische Kirche missionierte, liegen.

Das Team (v. l.): Dr. Barbara Schüler, Dr. Judith Schepers, Dr. Elisabeth-Marie Richter, Prof. Dr. Hubert Wolf, Jana Haack, Maik Kempe und Dr. Sascha Hinkel.<address>© Ilaria Magliocchetti Lombi</address>
Das Team (v. l.): Dr. Barbara Schüler, Dr. Judith Schepers, Dr. Elisabeth-Marie Richter, Prof. Dr. Hubert Wolf, Jana Haack, Maik Kempe und Dr. Sascha Hinkel.
© Ilaria Magliocchetti Lombi
Einlass bekommt nur, wer einen Hochschulabschluss und ein wissenschaftliches Interesse vorweisen kann. Die Archivzeiten sind erstaunlich kurz, die Tore öffnen sich frühestens um 8.30 Uhr und schließen – von den Archiven der Jesuiten und der Propaganda Fide abgesehen – bereits wieder um spätestens 13.45 Uhr. Die Wissenschaftler bestellen am Computer oder bei den Mitarbeitern eine oder mehrere „Archivschachteln“ und sichten in Lesesälen, die nicht anders aussehen als in gewöhnlichen Büchereien, die Dokumente. Welch eine Herausforderung! Viele Dokumente sind handschriftlich und in zahlreichen Sprachen verfasst, Hunderte Namen und Verwandtschaftshinweise werden genannt, es gilt zig Querverweise und Quer-Querverweise in andere Archive zu berücksichtigen, mal ist in ein und demselben Vorgang von einer Gertraud, einer Gertrude und einer Trude die Rede, immer wieder tauchen „Allerweltsnamen“ auf, sodass eine eindeutige Identifizierung schwierig ist, möglicherweise ist in 1.000 Blättern nur eine einzige Fundstelle von (großer) Bedeutung. „Es fällt oft schwer, klare Linien zu erkennen“, erläutert Sascha Hinkel. „Gerade für die Zuordnung von Personen tragen wir in diesem historisch besonderen Zusammenhang aber eine große Verantwortung.“

Einige Fälle will die Projektgruppe detailliert aufarbeiten, eine möglichst lückenlose Biografie inklusive der Rekonstruktion des historischen Kontextes ist dafür zwingend notwendig. „Dafür brauchen wir nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Weg dorthin“, meint Judith Schepers. „Man muss sich daher nicht nur sehr gut in den Archiven auskennen, man braucht auch eine gute Spürnase.“ Das stimmt, pflichtet Sascha Hinkel ihr bei, „es ist eine Art Detektivarbeit“. Man könne auch von einem „mehrdimensionalen Riesenpuzzle“ sprechen, ergänzt Barbara Schüler. Der Inhalt der Bittbriefe geht oft nahe. „Viele Autoren entblättern sich geradezu in der Hoffnung auf Hilfe, manche kündigen aus Verzweiflung ihren Selbstmord an – das schlägt einem hart entgegen“, berichtet Judith Schepers.

An diesem Nachmittag arbeiten drei Team-Mitglieder im Archiv der Jesuiten. Von besonderem Interesse sind hier die zahlreichen Vermerke und Briefe an und von Pietro Tacchi Venturi, dem Beichtvater des italienischen Diktators und Verbündeten Adolf Hitlers, Benito Mussolini.

Vieles schreiben sie ab, natürlich kann man in den vatikanischen Archiven auch Kopien bestellen. Das lässt sich der Vatikan aber gut bezahlen – eine Vervielfältigung für den internen Gebrauch kostet zwei Euro pro Seite, im Fall einer Veröffentlichung stellt die Kurie je nach Verwendung bis zu 200 Euro in Rechnung. Das Abfotografieren von Dokumenten ist verboten.

Großes Gebäude, kleine Tür: Aus den vatikanischen Museen heraus kann man den Eingang ins „Apostolische Vatikanische Archiv“ erkennen – es ist vor Kopf die zweite Tür von links.<address>© WWU - Norbert Robers</address>
Großes Gebäude, kleine Tür: Aus den vatikanischen Museen heraus kann man den Eingang ins „Apostolische Vatikanische Archiv“ erkennen – es ist vor Kopf die zweite Tür von links.
© WWU - Norbert Robers
Die Technik

„Oxygen“ heißt die Software, die mit ihrer Auszeichnungssprache „XML“ speziell für digitale Editionen entwickelt wurde und ohne die das münstersche Team schnell den Überblick in dem gewaltigen Geflecht aus Namen, Daten, Beziehungen und Dokumentenstämmen verlieren würde. Für jede Person und jedes Dokument existiert ein Datensatz, der mit einer sogenannten Case-ID verknüpft ist. Wichtig ist, dass sich alle an die Standards (Bittschreiben x/y, wer an wen, Datum in amerikanischer Form / keine Umlaute) und an die Logik der Aufzeichnungen halten. „Für unsere Zwecke ist ,Oxygen‘ perfekt, es ist auf die Architektur unserer Datensätze maßgeschneidert“, betont der Historiker Maik Kempe, der nicht nur in den Archiven arbeitet, sondern sich als Softwareentwickler im Team um die kontinuierliche Weiterentwicklung des Systems kümmert.

Es sind noch viele Jahre bis zum Abschluss. Aber die Gruppe hat bereits heute klare Ziele vor Augen: eine kritische Online-Edition, Abschlussarbeiten und mehrere Bücher – im Idealfall Bestseller.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 3. Mai 2023.

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