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Münster (upm/kn).
Vorstellung zweier Forschungsprojekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften<address>© WWU - kn</address>
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Vor der Arbeit steht die Suche nach einer gemeinsamen Sprache

Vorstellung zweier Forschungsprojekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Wissenschaftlicher Austausch und Interdisziplinarität sind die Grundlage für exzellente Forschung. Wie bereichert die fächerübergreifende Zusammenarbeit den Erkenntnisgewinn? Welche Hürden gilt es im Arbeitsalltag zu überwinden? Diese und weitere Fragen veranschaulichen wir mit der Vorstellung von zwei Forschungsprojekten aus den Geistes- und Sozialwissenschaften.

DFG-Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“

Fächerübergreifend zusammenarbeiten: Das Team der DFG-Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“ tauscht sich – wie hier im Landhaus Rothenberge – regelmäßig aus.<address>© Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“</address>
Fächerübergreifend zusammenarbeiten: Das Team der DFG-Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“ tauscht sich – wie hier im Landhaus Rothenberge – regelmäßig aus.
© Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“
Vor welchen Herausforderungen stehen Forscherinnen und Forscher aus der Wirtschaftsinformatik, Erziehungs- und Politikwissenschaft, Soziologie und Volkswissenschaftslehre, wenn sie in einem Projekt zusammenarbeiten? „Wir müssen viele neue Methoden kennenlernen, um den anderen überhaupt verstehen zu können“, antwortet Prof. Dr. Jörg Becker. Der Wirtschaftsinformatiker der Universität Münster ist Sprecher der Forschungsgruppe „Die digitale Mittelstadt der Zukunft“, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) seit Februar fördert. Gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Hupperich, Dr. Hendrik Scholta und Dr. Bettina Distel vom Institut für Wirtschaftsinformatik, dem Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Marcelo Parreira do Amaral, dem Soziologen Prof. Dr. Matthias Grundmann, dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Kersting und dem Volkswirtschaftsexperten Prof. Dr. Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum untersucht Jörg Becker, wie Städte, in denen 20.000 bis 100.000 Menschen leben, den Herausforderungen der Digitalisierung begegnen. Zudem wollen die Experten digitale Instrumente zur Stärkung der Lebensqualität entwickeln. Im Zentrum stehen Orte wie Ahaus oder Rheine, die sich außerhalb von Metropolregionen befinden und im ländlichen Raum für ihre Bewohner einen starken Identifikationscharakter besitzen.

„Zunächst mussten wir uns zusammenraufen“, schildert Jörg Becker. Seit drei Jahren arbeiten die acht Antragssteller zusammen. Vor der Abgabe des rund 300 Seiten starken Antrags trafen sie sich einmal in der Woche. Nicht zuletzt, um voneinander zu lernen. Für Wirtschaftsinformatiker ist beispielweise das Referenzinformationsmodell, das bei der Entwicklung und Umsetzung betriebswirtschaftlicher Softwarelösungen Anwendung findet, eine gängige Arbeitsmethode. Soziologen nutzen zum Beispiel die „sozial-ökologische Forschungsheuristik“, um Strategien zur Lösung gesellschaftlicher Nachhaltigkeitsprobleme zu entwickeln. Sie verknüpft gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Perspektiven. „Die ausgefeilten Methoden, die wir in unseren fünf Fächern anwenden, sind sehr unterschiedlich – deren Kombination in unserem Projekt führt zu neuen Erkenntnissen“, erklärt Jörg Becker. „Wir schauen uns jetzt nicht mehr verwirrt an, wenn wir die Begriffe verwenden.“ Mittlerweile haben sich der Koordinator und die elf wissenschaftlich Beschäftigten auf eine Arbeitsgrundlage für die Teilprojekte geeinigt – auf den sogenannten Befähigungsansatz, den der indische Ökonom Amartya Sen entwickelt hat. Die Forschungsgruppe nimmt mit „Zivilgesellschaft und soziale Leistungen“, „Verwaltung und Politik“, „Wirtschaft und Energie“ sowie „Bildung und Kultur“ vier zentrale Aspekte in den Fokus. Und dazu passt der aus den Sozialwissenschaften stammende Befähigungsgrundsatz wunderbar: Schließlich geht es dabei um die Frage, was der Mensch für ein gutes und erfülltes Leben benötigt.

Topical Program „Zeit und Artefakt“

Prof. Dr. Achim Lichtenberger und Prof. Dr. Dorothea Schulz, Sprecher-Duo des Topical Programs „Zeit und Artefakt“, zeigen mit der „trunkenen Alten“ – ein Gipsabguss einer Marmorstatue im Archäologischen Museum – und einer Harfenlaute aus Westafrika die Spannweite von materiellen Gegenständen und immateriellen Objekten.<address>© WWU - Michael C. Möller</address>
Prof. Dr. Achim Lichtenberger und Prof. Dr. Dorothea Schulz, Sprecher-Duo des Topical Programs „Zeit und Artefakt“, zeigen mit der „trunkenen Alten“ – ein Gipsabguss einer Marmorstatue im Archäologischen Museum – und einer Harfenlaute aus Westafrika die Spannweite von materiellen Gegenständen und immateriellen Objekten.
© WWU - Michael C. Möller
Welche Chancen bietet die Zusammenarbeit über die eigenen Fächergrenzen hinweg? „Der Verbund aus vielen kleinen Fächern, die jeweils eigene systematische Zugänge haben, treibt unser Projekt enorm voran“, beschreibt Prof. Dr. Achim Lichtenberger vom Institut für Klassische Archäologie und Christliche Archäologie der Universität Münster und Sprecher des seit Ende des vergangenen Jahres vom Rektorat unterstützten Topical Programs „Zeit und Artefakt“. 25 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie den Altertumswissenschaften, der Musikwissenschaft, der Philosophie und der Sozial- und Kulturanthropologie wollen eine Plattform schaffen, deren Arbeit sich mit verschiedenen Formen und Aspekten von Artefakten befasst. Das Besondere ist zum einen das weit gefasste Verständnis von „Artefakt“. Neben materiellen Gegenständen wie Münzen und Architektur nehmen die Experten auch immaterielle Objekte wie musikalische und literarische Werke sowie Geld als Wirtschaftsgut unter die Lupe. Zum anderen soll analysiert werden, wie sich Zeit und Artefakte zueinander verhalten und sich wechselseitig beeinflussen und prägen. Die zeitliche Dimension von Gegenständen und Werken haben Kulturwissenschaftler bislang nicht systematisch beleuchtet. Damit können unter anderem Fragen nach der Existenz sowie der Veränderlich- und Manipulierbarkeit von Artefakten beantwortet werden.

„Wir müssen einen gemeinsamen Werkzeugkasten entwickeln, damit wir nicht aneinander vorbeireden“, unterstreicht Co-Sprecherin Prof. Dr. Dorothea Schulz vom Institut für Ethnologie. Während die Erforschung von Artefakten zu den Kernthemen einiger geisteswissenschaftlicher Disziplinen gehört, haben andere geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer erst in der jüngsten Vergangenheit damit begonnen, Artefakte und ihre Einbettung in sich verändernde soziale und historische Zusammenhänge in den Fokus zu rücken. „Diese in Münster vorhandene einzigartige Kombination aus empirisch-beschreibender und systematisch-normativer Expertise zu Artefakten wollen wir zusammenbringen“, führt Achim Lichtenberger aus. Ein Beispiel ist die Diskussion um die Objektbiografie. Altertums- und Geschichtswissenschaftler erfassen mithilfe dieser Methode die Lebensgeschichte von Objekten. Sozial- und Kulturanthropologen befürchten hingegen, dass das Konzept der Veränderlichkeit von Objekten und ihrer Bewertung durch Menschen, die aus ihrer transnationalen Mobilität erwachsen, nicht ausreichend Rechnung trägt. Für das Projekt gilt es, einen für alle Disziplinen gangbaren Weg zu finden.

 

Autorin: Kathrin Nolte

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 3, 3. Mai 2023.

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